Kairos. Christian Friedrich Schultze

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Kairos - Christian Friedrich Schultze

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in Ruhe zu lassen, sonst würden sie es sicher bereuen. Die Boys lachten über diesen Witz laut und lange. Vier junge, starke, abenteuerlustige Oklahomajungs sollten irgendetwas bereuen, was mit einem kleinen, einsamen Asiatenmädel zu tun hatte! Das war doch zu lustig! Einer zog ein Jagdmesser und ließ es im Abendlicht blitzen.

      Er hatte die tänzerische Bewegung Li Hui´s noch nicht einmal gesehen, als der Außenknöchel ihres rechten Fußes bereits an seiner Schläfe einschlug. Der junge Mann kippte lautlos, wie in Zeitlupe, zur Seite und landete auf dem weichen Waldboden. Das Messer, welches er dabei fallen ließ, blieb in einer Wurzel stecken. Li Hui´s Unterbewusstsein schrie: "Hoffentlich ist er nicht tot, hoffentlich ist er nicht tot!..."

      Der Zweite brach in der gleichen Sekunde nach einem blitzartigen Fingerknöchelkick auf seinen Solarplexus in die Knie und fiel dann vornüber auf sein Gesicht. Die beiden anderen waren einen Moment lang wie erstarrt, dann flüchteten sie mit schrillem Hilfegeschrei.

      Während Li Hui in höchster Eile das Zelt abriss und ihre Sachen in ihr Auto warf, sah sie noch, wie der Typ gegenüber seinen Kopf aus dem Zelteingang steckte, ihn aber schnell wieder zurückzog. Die beiden Jungen lagen wie tot im Gras. Li Hui startete den Ford und fuhr verwirrt und mit großer Geschwindigkeit in die südliche Nacht. Es war nur noch ein Katzensprung bis hinüber nach Arkansas. Nach einer halben Stunde angstvoller Fahrt hatte sie es geschafft. Doch ihre Furcht vor Polizei und Pegasus war unbegründet. Die armen, farbigen, arbeitslosen Südstaatenboys, die ihr langweiliges, perspektivloses Leben mit einem kleinen sexuellen Abenteuer am Wochenende ein wenig aufpeppen wollten, waren weit davon entfernt, den staatlichen Behörden etwas von ihrem Fehltritt zu vermelden. Li Hui kam deshalb nach einem weiteren, sehr lang erscheinenden Tag Autofahrt am Ende des Monats September wohlbehalten, wenn auch aufgeschreckt und dadurch doppelt wachsam, in der einstigen Baumwollmetropole Memphis an.

      Memphis, Tennesse! Wer nur hatte dieser Ansiedlung den Namen der einstigen nördlichen Hauptstadt des alten Ägyptens gegeben? Waren es die Spanier unter Hernando des Soto gewesen, die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts als erste Europäer auf die hiesigen Chickasaw-Indianer trafen? Oder die Franzosen, die im siebzehnten Jahrhundert ihr erstes Fort an den östlichen Steilufern des Mississippi errichteten? Oder waren die Engländer im achtzehnten Jahrhundert auf diese Idee gekommen, als sie diesen Flecken von den Franzosen erobert hatten?

      Als Li Hui über die nördliche der beiden riesigen Flussbrücken fuhr, die von Westen in die auf dem Ostufer liegende Stadt hineinführten, sah sie im Licht des frühen Nachmittags zuerst die gewaltige American Memphis Pyramid aufragen und blitzen. Memphis und eine Pyramide – welches Omen! Sie wusste so gut wie nichts über diese große Stadt des Südens, aber der Strom, die Inseln und dieses merkwürdige Bauwerk machten sie neugierig und sie beschloss, sich gleich am andern Tag einen Stadtführer zu besorgen, aus dem sie etwas über Vergangenheit und Gegenwart dieser Metropole erfahren konnte. Es würde wohl kein Fehler sein, einige Tage hier abzuwarten und zur prüfen, ob sie ihr nicht doch auf die Spur gekommen waren.

      Die Stadt strebte zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts nach langer Agonie wieder nach oben. FedEx war derzeit der ökonomische Dominator, von dem die meisten Arbeitnehmer der Region abhingen. Amerikas Frachtdienstleister Nummer eins, direkt am "Hub“ Memphis International Airport gelegen, hatte in der wirtschaftlichen Bedeutung die einstigen Baumwoll-, Soja- und Hartholzhändler auf die Plätze verwiesen. Aufmerksam studierte Li Hui ihren Geoguide. So erfuhr sie schließlich auch, dass in dieser Stadt einige ihrer Lieblingsmusiker, wie Elvis, Jerry Lee Lewis, Jonny Cash und B.B. King groß geworden waren.

      Diese Stadt, in der man Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts während der Bürgerrechtskämpfe zwischen Schwarzen und Weißen den Baptistenprediger Martin Luther King erschossen hatten, wurde inzwischen vollkommen von Afroamerikanern und südamerikanischen Einwanderern beherrscht. Asiaten spielten hier kaum eine Rolle. Li Hui fand in dieser Halbmillionenstadt jedoch keine Chinatown, so wie sie es von Frisco und L.A. her kannte.

      Sie war in einem bescheidenen, aber sauberen Motel in der Nähe des Rivermontparkes, knapp oberhalb der südlichen Mississippibrücke, untergekommen. Warum sie dann über eine Woche hier geblieben war, konnte sie sich selbst nicht schlüssig beantworten. Wahrscheinlich war es der Strom gewesen, der sie, wie alle hier, unausweichlich in seinen Bann zog. Diese zentrale Wasserstraße des Imperiums, den die indianischen Ureinwohner "Vater der Gewässer" genannt hatten und der durch zehn Bundesstaaten der Vereinigten Staaten floss, hatte sie von dem Moment an, als sie die Hernando-de-Soto-Brücke überquert hatte, auf beinahe mystische Weise beeindruckt.

      Natürlich hatte sie während dieser nicht geplanten Reisepause Graceland, das Memorial des Rockkönigs Elvis Presley, und das Mississippi-Museum auf Mud Island besucht. Die Delta Queen, ein Schaufelraddampfer aus der Mark-Twain-Zeit, der hier verankert war, hatte sie dann auf die Idee gebracht, für ihre Weiterreise ein solches Riverboat zu benutzen. Sie hoffte, mit dieser gemächlichen Art zu reisen, ihre Spuren weiter verwischen zu können.

      Der Herbst hatte jetzt ernsthaft begonnen, den Sommer zu verdrängen. Die Wälder auf der westlichen, der Arkansasseite, ebenso wie auf den Inseln Mud Island und Hopefield Chute, begannen bereits, ihre bunte herbstliche Färbung anzunehmen. Schon fegte mit dem einsetzenden Nordwestwind erstes schmutziges Laub durch die Straßen. Während Li Hui diese amerikanische Südstaatenmetropole für sich eroberte, nahm ihre Furcht vor Pegasus wieder zu. Besonders in ihren einsamen Nächten in dieser zweitklassigen Pension, erfasste sie tiefer Schmerz und das Gefühl grenzenloser Einsamkeit. Immer deutlicher trat ihr ins Bewusstsein, wie allein sie nun auf dieser Welt war und wie sehr ihr Jeremias Redcliff und Ning Sebastian fehlten. Nur die Hoffnung, den Sohn eines nicht allzu fernen Tages wiederzufinden, der ihr von ihren Pekinger „Freunden“ vor nunmehr fast acht Jahren genommen worden war, nährte noch ihren Überlebenswillen.

      Am dritten Tag ihres Aufenthaltes in Memphis erfuhr Li Hui beim Frühstück in einem schlichten Café am Fluss von der dunkelhäutigen Bedienung, dass der Sunset Limited, eine Sonderzug auf der Eisenbahnstrecke von Los Angeles über New Orleans nach Florida, seit einem halben Jahr wieder in Betrieb war. Durch die Hurrikankatastrophe Katrina im Jahre 2005 waren große Teile der Strecke und auch einige wichtige Eisenbahnbrücken zerstört worden. Der Zug verkehrte nun wie vordem alle drei Tage auf der über viereinhalbtausend Kilometer langen Bahnstrecke von West nach Ost.

      Spontan hatte sie also beschlossen, mit einem der historischen Raddampfer abwärts des Mississippi bis nach New Orleans zu schippern, um von dort ihre Reise per Eisenbahn in Richtung Orlando fortzusetzen. Sie verkaufte ihren Ford und enterte am dritten Tag eines der regelmäßig zwischen den beiden Städten verkehrenden Flussschiffe. Von Memphis bis in die südliche Hafenstadt waren es noch gut fünfhundert Kilometer Wasserweg und Li Hui war überrascht, in welch gewaltigen Bögen der große Strom durch das Land führte.

      Die Pioniere der Mississippiflussschifffahrt hatten zwar bereits im frühen neunzehnten Jahrhundert versucht, den „Vater der Gewässer“ etwas zu bändigen und abschnittsweise zu begradigen. Doch trotz zahlreicher Stauwehre, Buhnen und Nebenkanäle, die von den Generationen inzwischen errichtet worden waren, änderte der Fluss in vielen seiner Teilstücke weiterhin Jahr für Jahr seinen Lauf und plagte die Anrainer zudem mit seinen unregelmäßigen Hochwassern.

      Ihre Vorstellung vom Strom war in Memphis eine ganz andere gewesen, als dieser sich ihr vom Schiff aus darbot. Erst jetzt bekam sie eine Ahnung davon, wie lebendig, gefährlich und eigenständig der Mississippi in Wirklichkeit war. In der Stadt hatte sie einige Male an den Ufern und Kais gesessen, ihn scheinbar träge, breit und gleichmäßig an sich vorbeifließen sehen und dabei den vielfältigen Schiffs- und Bootsverkehr beobachtet. Von seiner Gewalttätigkeit hatte das breite Wasser ihr dabei nichts offenbart. Während der drei Tage, die diese Reise flussabwärts führte, blieb sie abends, nach der stets schnell einsetzenden Dunkelheit, auf einem der Liegestühle in eine Decke gehüllt auf dem Oberdeck liegen und beobachtete das an ihr vorüberziehende Amerika. Es waren auch Stunden

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