Vor dem Mast – ein Nautiker erzählt vom Beginn seiner Seefahrt 1951-56. Klaus Perschke
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Es wurde höchste Zeit, dass wir Alten ausgemustert wurden, als die SAP-orientierten Wirtschaftsinformatiker und Diplom-BWLer ans Ruder kamen. Hafenliegezeiten werden nach Stunden und Minuten reguliert. Der Inhalt der Container bleibt für den Ladungsoffizier bis auf das Gefahrengut im Großen und Ganzen anonym. Er hat nie einen Containerinhalt gesehen, es sei denn, der Containerinhalt wurde ausgeraubt, war explodiert, oder lag ausgebrannt verstreut an Deck. Der Kapitän darf nur noch Konnossemente unterzeichnen. Den Rest erledigen die Makler, Reedereiverwaltungen und die Shipplaner in den Terminal-Offices aller großen Häfen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Diese Entwicklung ist nicht aufzuhalten und wird auch so weiter gehen. Aber kein noch so tüchtiger Ladungsoffizier hat heute noch die Übersicht über 6.000 Container, die für 8 bis 10 Häfen bestimmt sind. Und wenn von diesen 6.000 Containern auch nur 10 Prozent mit Gefahrengütern beladen sind, dann kann man nur hoffen, dass er weiß, wo diese an Bord abgestellt und untergebracht sind. Sonst „gute Nacht“ oder „armes Schwein“!
Meine Idee war, die damalige Seefahrt der heutigen gegenüber zu stellen. Ich will sie nicht glorifizieren. Sie hatte viel mit Knochenarbeit zu tun. Dafür war auch mehr Personal an Bord. Aber eins gab es damals auf den meisten deutschen Schiffen, und das ist heute fast verloren gegangen: Eine so genannte Kameradschaft! Der Personalmanager der Reederei sagt dann: „Das Betriebsklima an Bord ist ausgezeichnet.“ Kameradschaft kennt er gar nicht. Klingt sentimental und lächerlich, war aber für uns damals sehr wichtig. Nur das findet man eben heute nicht mehr an Bord der schwimmenden Dinosaurier mit deren internationalen Besatzungen unter den „flags of convenience“. Money makes the world go round! Für uns alte Hasen bedeutete das: Abtreten, die Zeiten haben sich für immer geändert.
Cuxhavener Flegel- und Jugendjahre von 1945 bis 1951
Jetzt, mit über siebzig Jahren möchte ich noch einmal rückblickend über meine so genannte Sturm- und Drangzeit rekapitulieren. Heute habe ich das Gefühl, als wenn das Leben wie ein D-Zug vorbeigebraust wäre. Ja, was hat es gebracht? Was hatte ich damals daraus gemacht? Wie war es eigentlich nach dem Zusammenbruch des so genannten „Tausendjährigen Reiches“; als ich gerade einmal zehn Jahre alt war, weitergegangen? Alles war plötzlich platt! Die Zukunft sah nicht gerade rosig aus für alle, die dieses Chaos überlebt hatten.
Für einen kleinen Pimpf, dessen Vater an der Front vermisst wurde, war sein Umfeld ein unglaubliches Chaos und ein Schock zugleich. Zuhause in Cuxhaven in der Gorch-Fock-Straße 12 war die Dreizimmerwohnung überfüllt mit den bei uns untergeschlüpften Verwandten, die die Flucht aus Westpreußen und Schlesien zwar heil an Armen und Beinen, aber im Kopf heillos durcheinander überstanden hatten.
Meine Heimatstadt Cuxhaven an der Elbe war von 1939 bis 1970 meine Welt.
Hier habe ich meine Kindheit und Jugend verbracht. Hier setzte ich 1951 das erste Mal meine Füße an Deck des Fischkutters HF 410 „DOGGERBANK“. Lang ist’s her
Die Mutter war mit dieser Situation total überfordert und wurde plötzlich religiös. In ihrer Verzweiflung suchte sie Beistand in einem christlichen Frauenkreis, den der damalige Ex-Marineoberpfarrer Arno Pötzsch für die hinterbliebenen Frauen von gefallenen Marine- und sonstigen Militärangehörigen gegründet hatte. Zu diesem Frauenkreis stieß eines Tages auch eine adelige Flüchtlingsfrau aus Barzdorf bei Waldenburg in Schlesien: Freifrau Ilse von Reibnitz, Tochter eines wohlhabenden Rittergutsbesitzers und die Schwester des bekannten Jagdfliegers des 1. Weltkrieges, Freiherrn Manfred von Richthofen. Diese Dame war 1945 zusammen mit ihrer Zofe in Cuxhaven in der Amerikastrasse gestrandet. Beide Damen besaßen nichts außer einem kleinen Böllerwagen, der mit einem Koffer und ein paar Kartons persönlicher Effekten beladen war. Sie hatten das Glück, bei einer Cuxhavener Lotsenfamilie unterzuschlüpfen. Diese Freifrau hatte natürlich alles, was sie früher in Schlesien besessen hatten, verloren. Aber das Leben ging weiter. Natürlich mit Krampf. Die täglich neue Herausforderung: „Was kommt heute auf den Tisch?“, konnten nur die gewinnen, die stark waren. Meine Mutter war leider nicht stark.
Im Alter von 11 Jahren zusammen mit meiner Mutter Hilde und meinem jüngeren Bruder Peter im Mai 1946
Dieses Durcheinander war sie von der vorangegangenen Werteordnung des Großdeutschen Reiches nicht gewohnt. Wie gesagt, es war damals 1945 alles ganz schön nervig und entmutigend am Ende der Welt in Cuxendörp an der Elbe. Wir jungen Bengels steckten diese neuen Erfahrungen etwas lässiger weg als die Erwachsenen. Wir genossen unsere neue „Freiheit“. Wieso Freiheit? Nun ja, zum einen die plötzliche „Schulfreiheit“, denn die Schulen waren ja geschlossen, von den Siegern beschlagnahmt, und wir konnten den ganzen Tag draußen in so genannten Kinderbanden herumtoben und dummes Zeug anstellen. Weiterhin Freiheit, weil der Vater vorübergehend „weggeschlossen“ war, denn es stellte sich plötzlich heraus, dass er lebte und in britische Gefangenschaft geraten war. Also weit, weit weg von zuhause, doch er würde wiederkommen, nur wann? Meine beiden Vettern, die mit ihrer Mutter aus Elbing, Ostpreußen, zu uns geflüchtet waren und neun Monate bei uns lebten, waren wie ich auch unternehmungslustig. Unsere Mütter waren die meiste Zeit des Tages mit der Problemlösung der Abfütterung beschäftigt, okay es war eine makabre Freiheit. Fast überall konnte man übermütig am Deich und am Rande des Hafens herumstrolchen. Nicht einmal mein schwer kriegsversehrter Onkel, der die Chefstelle des Hauses vorübergehend eingenommen hatte, konnte uns daran hindern. Wir waren schneller. Und was fand man bei diesen Ausflügen nicht für hochinteressante Sachen, die andere Leute entweder verloren oder weggeworfen hatten?! Zum Beispiel braune Paradeuniformteile von „Goldfasanen“! Gutes Tuch! Oder weggeworfene Orden von Goldfasanen, die es plötzlich nicht mehr gab. Es lag alles so in der Landschaft herum, einsam und verlassen. Und wir sammelten es wieder auf und brachten es heim. Es hatte sich unser damals eine Art Sammelleidenschaft bemächtigt.
Als die Kiautschou-Kaserne nach der Kapitulation freigegeben wurde, wurde sie von den Cuxhavener Hausfrauen auf der Suche nach Lebensmitteln der Ex-Kriegsmarine gestürmt. Wir dummen Jungens hatten dagegen nichts anderes im Kopf, als durch die riesigen Keller dieser Kaserne zu strolchen. Uns hatte die Abenteuerlust gepackt. Dabei stießen wir unter anderem auf einen offenen Keller, in den die Angehörigen des Musikzuges ihre Blasinstrumente in Reih und Glied untergestellt hatten. Und das war dumm von ihnen gewesen. Wir Jungens hatten nichts Wichtigeres im Sinn, als uns jeder mit einem dieser Instrumente zu bewaffnen und zu türmen. Wobei ich als Zehnjähriger unbedingt das größte Instrument aussuchen musste, eine Posaune. Damit schlichen wir uns aus dem dunklen Keller heraus, brachten sie tatsächlich unentdeckt über einen drei Meter hohen Stahlzaun und kamen damit nach Hause. Wohin damit zuhause? Die Wohnung war voll gestellt mit einer Ansammlung von gerettetem Hab und Gut aus der Heimat. Natürlich war noch Platz auf dem Balkon. Und dort blies ich dann mit meinem bisschen Puste, die ich aus den Lungen drücken konnte, den Choral „Heil dir mein Vaterland“. Es klang wie das Typhon eines Fischkutters, schrecklich! Unser Pech war nur, dass unser rechtwinklig gebauter Wohnblock in der Nachbarschaft zum Teil von britischem Militär beschlagnahmt war und diese Herrschaften fühlten sich in ihrer Mittagsruhe oder „tea time“ gestört und wurden langsam neugierig