Schlaflose Nächte. Carl Hilty
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Morgens Tau und abends Regen
Hast du deinem Volk verheißen;
Unaufhörlich quillt dein Segen
Über uns in tausend Weisen.
Millionen sind gestorben,
Und kein Tag war ohne Bangen;
Aber keiner ist verdorben,
Welcher treu an dir gehangen.
Niemand könnt' es noch ergründen,
Was er ist, der Gottessegen;
Eines bloß kann jeder finden:
Alles ist an ihm gelegen.
Schlafenszeit mit leisem Tritte
Kommt dem einen er gegangen,
Während um des Nachbars Hütte
Stete Donnerwolken hangen.
Einen fliehen alle Freuden
Im Besitz der besten Gaben,
Während andre in dem Leiden
Vollgefühl des Glückes haben.
Darf der Enkel, Herr, der Deinen,
Ihrer Treue Frucht genießen,
muss ein andrer, zu der seinen,
Auch die Schuld der Eltern büßen?
Gönnst du nimmer, Herr, uns Sündern,
Dies Geheimnis auszurechnen,
Wolle dennoch unsern Kindern
Leid und Freude immer segnen.
4. Februar
Es ist ja doch zu wenig Liebe und zu viel Egoismus in der Welt, sagen die Pessimisten, darum wollen wir diese erbärmliche Menschheit aufgeben und verachten.
Der Vordersatz ist unbestreitbar richtig, aber die Schlussfolgerung nicht. Richtig wäre: Darum wollen wir wenigstens noch so viel Liebe und so wenig Egoismus wie möglich hinzutun.
Dessen sei aber gewiss: Du musst ein anderes Herz bekommen, das Gott über alles liebt und allen Geschöpfen selbstverständlich wohlwollend zugeneigt ist. Sonst ist alles, was du von Religion, Humanität oder Menschenliebe sprichst, noch ein ziemlich leeres Geschwätz. Und der Materialismus, der das menschliche Wesen auf den natürlichen Egoismus begründet, ist dann auch für dich das wahrheitsgetreuere System, ganz gleich, ob du kirchlich gesinnt bist, oder nicht. Nur dieses »andere« Herz ist dem Egoismus überlegen. Aber kein Mensch hat es von Natur aus und kann es sich erfahrungsgemäß auch durch keinerlei Anstrengung des Denkens oder Wollens verschaffen. Das ist der Grund, weshalb man bei einiger Menschenkenntnis und Lebenserfahrung eine Befreiung oder »Erlösung« durch eine außerhalb des Menschen stehende Macht annehmen muss, eine Macht, die im Übrigen schon im Alten Testament vielfach zugesagt ist.
Jes 43 10 Jes 65 17–24 Jes 66 12–14 Jer 24 7 Jer 31 1–14 Jer 31 33 Hes 11 19–20 Hes 36 26.
Erklären kann man's dir nicht, wenn du es nicht erfahren hast. Aber erfahren kann es jeder.
Ein indisches weises Wort sagt zwar:
Nichtwissen wird zur Hälfte zerstört durch freien Gedankenaustausch, die Hälfte des Verbliebenen wird beseitigt durch die Hinwendung zur Philosophie, das Übrige verschwindet im Licht der Selbstbetrachtung.
Versuche es meinethalben; aber ich sage dir im Voraus: Es wird dir noch immer ein starker Rest von Unbefriedigung übrig bleiben auf diesem Weg.
5. Februar
Lass einmal versuchsweise für eine Weile das Kritisieren ganz. Ermutige und unterstütze überall nach Kräften alles Gute, und ignoriere das Gewöhnliche und Schlechte als etwas Nichtiges und Vorübergehendes. Vielleicht gelangst du damit zu einem befriedigenderen Leben. Sehr oft liegt alles gerade daran.
6. Februar
Das Leben jedes Menschen trägt so viel Mysteriöses in sich, dass man in gewisser Hinsicht behaupten kann, es gebe keine ganz wahren Biographien und könne keine geben. Ich wenigstens wüsste nicht, wie ich manche wahre und wesentliche Erlebnisse der vollen Wahrheit gemäß und dennoch für andere verständlich darstellen sollte.
Ein einziges Mal, in einer schlaflosen Krankheitsnacht, ist es mir in Gedanken möglich gewesen. Es war aber so, als ob ein ganz anderer Geist die Worte bildet. Und ich wäre am Morgen nicht mehr imstande gewesen, es niederzuschreiben.
7. Februar
Ein Schriftsteller sagt mit Recht, es komme eigentlich bloß darauf an, auf dem rechten Weg zu sein; alles andere gebe sich dann von selbst.
Man kann auch sagen: Es ist bloß wichtig, den Geist in sein Leben hinein zu bekommen, den das Evangelium den heiligen nennt; der tut dann alles Weitere.
So kann man auch noch weiter sagen: Mache zeitweise alle religiösen Bücher zu außer der Bibel, und selbst in dieser lass alles, außer den Worten und Taten Christi. Das andere ist zur Seligkeit nicht nötig, kann aber zeitweise wieder eine brauchbare Unterstützung oder Anregung sein.
Es ist bemerkenswert, wie das Evangelium allein auf arbeitende Leute vollkommen wirkt. Dem tätigen Menschen ist es eine beständige Erquickung auf seinem Weg. Ein Müßiggänger, auch ein geistlicher, muss dagegen noch etwas dazu haben, fortwährende Gemeinschaft, Feste, äußere Kirchlichkeiten aller Art — lauter Dinge, die der andere zur Not ganz entbehren kann.
Gnadenwahl
Der du mich zu deinem Werke
Auserwählt von Ewigkeit,
Zur Erkenntnis gib die Stärke;
Mache tätig und bereit.
Was du forderst, lehre wagen;
Was du tust, tu ganz und groß;
Nur im Glauben kann man tragen
Ein so schönes, schweres Los.