DIE EISERNE FERSE. Jack London
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Und so will ich denn in dieser bangen Zeit des Harrend von meinem Gatten schreiben. Viel Licht kann ich allein von allen Lebenden auf seinen Charakter werfen, und ein so edler Charakter kann gar nicht leuchtend genug geschildert werden. Er war eine große Seele, und wenn meine Liebe auch zu immer größerer Selbstlosigkeit wächst, so ist es doch mein größter Schmerz, dass er die kommende Zeit nicht mehr erleben soll. Es kann nicht fehlschlagen. Dazu hat er zu hartnäckig und zu sicher gebaut. Wehe der Eisernen Ferse! Bald wird sich die niedergetretene Menschheit unter ihr erheben. Wenn der Ruf dazu ergeht, werden die Arbeiterscharen der ganzen Welt aufstehen. Nie hat die Weltgeschichte dergleichen gesehen. Die Arbeiter stehen zusammen, und in der ersten Stunde wird eine Revolution ausbrechen, die die ganze Welt umspannt (4).
Ihr seht, ich bin erfüllt von dem, was da kommen soll. Tag und Nacht habe ich es immer und immer wieder so durchlebt, dass es mir stets vor Augen steht. Und so oft ich n meinen Gatten denke, muss ich auch daran denken. Er war die Seele von alledem, und wie könnte ich ihn in Gedanken davon trennen?
Wie ich bereits sagte, bin ich allein imstande, viel Licht auf seinen Charakter zu werfen. Man weiß, dass er für die Sache der Freiheit hart arbeitete und schwer litt. Wie hart er arbeitete, und wie schwer er litt, weiß ich selbst am besten, denn diese zwanzig aufreibenden Jahre war ich bei ihm, und ich kenne seine Geduld, sein unermüdliches Streben, seine grenzenlose Hingabe für die Sache, für die er nun, vor kaum zwei Monaten, sein Leben gegeben hat.
Ich will versuchen, schlicht zu erzählen, wie Ernst Everhard in mein Leben trat - wie ich ihm zuerst begegnete, wie er groß wurde, bis ich ein Teil von ihm ward, und welch ungeheure Veränderungen er in mein Leben brachte. So mögt ihr ihn durch meine Augen sehen und ihn kennen lernen, wie ich ihn kennen lernte - in allem, außer in dem, das zu heilig und zu süß ist, als dass ich es erzählen könnte.
Es war im Februar 1912, dass ich ihm zum ersten Male begegnete, und zwar als Gast im Hause meines Vaters (5) in Berkeley. Ich kann nicht sagen, dass der erste Eindruck, den er auf mich machte, besonders günstig war. Bei Tisch war er einer von vielen, und im Salon, wo wir die Gäste empfingen, wirkte er etwas seltsam. Es war Pastorentag, wie mein Vater unter vier Augen sagte, und unter diesen Männern der Kirche war Ernst sicher nicht recht am Platze. Erstens saß sein Anzug nicht. Es war ein fertig gekaufter aus dunklem Stoff, der sich seinem Körper schlecht anschmiegte. Fertig gekaufte Anzüge passten ihm überhaupt nie. Wie immer beutelte sich auch an diesem Abend der Stoff über seinen Muskeln, während der Rock zwischen den überbreiten Schultern ein Labyrinth von Falten zeigte. Sein Hals war der eines Preiskämpfers (6), dick und stark. So also sieht der Sozialphilosoph und frühere Hufschmied aus, den mein Vater entdeckt hat, dachte ich. Und wahrlich: Man sah ihm seine Vergangenheit an den schwellenden Muskeln und dem Stiernacken an. Sofort war ich mir klar über ihn - eine Sehenswürdigkeit, dachte ich, ein Blinder Tom (7) der arbeitenden Klasse.
Und als er mir dann die Hand schüttelte! Sein Händedruck war stark und fest, seine schwarzen Augen aber sahen mich kühn an - fast zu kühn, wie mir schien. Ihr seht, ich war ein Produkt meiner Umgebung und besaß damals ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein. Bei einem Manne meiner eigenen Klasse wäre eine solche Kühnheit fast unverzeihlich gewesen. Ich weiß noch, wie ich unwillkürlich die Augen senken musste; ich fühlte mich ganz erleichtert, als ich ihn stehen lassen konnte, um Bischof Morehouse zu begrüßen - einen meiner Lieblinge, ein Mann von mildem Ernst in reiferen Jahren, eine gütige Christuserscheinung und dabei ein tüchtiger Gelehrter.
Aber diese Kühnheit, die mir als Anmaßung erschien, war ein Grundzug in Ernst Everhards Wesen. Er war einfach und geradezu, fürchtete sich vor nichts und verschmähte es, Zeit auf konventionelles Getue zu verschwenden. »Du gefielst mir,« erklärte er mir viel später einmal; »und warum sollten sich meine Augen nicht sattsehen an dem, was mir gefiel?« Ich sagte, dass er sich vor nichts fürchtete. Er war der geborene Aristokrat - und das trotz der Tatsache, dass er im Lager der Nichtaristokraten stand. Er war ein Übermensch, eine blonde Bestie, wie Nietzsche (8) sie beschrieben hat, und zu alledem ein glühender Demokrat.
Die Begrüßung der übrigen Gäste nahm mich in Anspruch, und dazu kam der ungünstige Eindruck, den der Arbeiterphilosoph auf mich gemacht hatte, so dass ich ihn ganz vergessen haben würde, hätte er nicht ein- oder zweimal meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, und zwar durch ein Aufblitzen seiner Augen, während er den Worten eines der Geistlichen lauschte. Er hat Humor, dachte ich und verzieh ihm fast seine Kleidung. Aber das Essen ging seinem Ende zu, ohne dass er den Mund zum Sprechen geöffnet hätte, während die Geistlichen ununterbrochen von der arbeitenden Klasse und ihren Beziehungen zur Kirche, sowie von dem redeten, was die Kirche für sie getan hatte und noch tat. Ich merkte, dass mein Vater sich ärgerte, weil Ernst nichts sagte. Einmal nahm er eine Pause wahr, um ihn zu bitten, etwas zu sagen; Ernst aber zuckte mit einem »Ich habe nichts zu sagen« die Achseln und fuhr fort, Salzmandeln zu essen.
Vater ließ sich jedoch nicht abweisen. Nach einer Weile sagte er:
»Wir haben ein Mitglied der arbeitenden Klasse unter uns. Ich bin sicher, dass er manches von einem neuen, interessanten und erfrischenden Standpunkt aus beleuchtet! könnte. Was meinen Sie, Herr Everhard?«
Die andern bezeugten geziemendes Interesse und baten Ernst um eine Darlegung seiner Ansichten. Ihr Benehmen gegen ihn war so duldsam und liebenswürdig, dass es schon beinahe herablassend wirkte. Und ich sah, dass Ernst es bemerkte und belustigt war. Er blickte sich langsam um, und ich sah das Lachen in seinen Augen.
»Ich bin nicht in der Höflichkeit geistlicher Unterhaltung bewandert«, begann er, stockte dann aber bescheiden und unschlüssig.
»Nur zu«, drängten die ändern, und Dr. Hammerfield sagte: »Wir stoßen uns nicht an der Aufrichtigkeit eines Menschen, wenn sie nur ehrlich ist.«
»Sie machen also einen Unterschied zwischen Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit?«
Ernst lächelte flüchtig bei diesen Worten.
Dr. Hammerfield schnappte nach Luft; dann erwiderte er: »Die besten unter uns können irren, junger Mann, die besten unter uns.«
Ernst änderte sein Benehmen augenblicklich. Er wurde ein anderer.
»Also schön«, sagte er, »dann lassen Sie mich Ihnen gleich von vornherein sagen, dass Sie alle irren. Von der arbeitenden Klasse wissen Sie nichts, weniger als nichts. Ihre Soziologie ist ebenso falsch und wertlos wie ihre ganze Art und Weise zu Denken.«
Es war nicht so sehr, was er sagte, wie die Art, wie er es sagte.
Beim ersten Klang seiner Stimme war ich aufgerüttelt.
Diese Stimme war ebenso kühn wie seine Augen. Sie durchdrang mich wie eine Fanfare. Und die ganze Tafelrunde war aufgerüttelt und aus ihrer Eintönigkeit und Schläfrigkeit geweckt.
»Was ist denn so Falsches und Wertloses an unserer Denkart, junger Mann?«, fragte Dr. Hammerfield, und schon war eine gewisse Unliebenswürdigkeit in seiner Stimme und Sprechweise zu spüren.
»Sie sind Metaphysiker. Durch Metaphysik können Sie alles beweisen; und demzufolge kann jeder