Nesthäkchens Jüngste. Else Ury
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Читать онлайн книгу Nesthäkchens Jüngste - Else Ury страница 4
»Rudi, ich weiß doch nicht, ob wir der Ursel so scharf entgegentreten und ihre künstlerischen Wünsche gänzlich unterdrücken sollen«, meinte sie sinnend. »Um so mehr wird sie sich nur in das ihr Versagte festbeißen. Eine Mutter kennt doch ihr Kind am besten. Und ich weiß von meinen Mädchenjahren her, daß ich so lange gebohrt habe, bis der Vater schließlich eingewilligt hat, daß ich mit den Freundinnen in Tübingen studieren durfte. Ein Glück, daß ich's durchgesetzt habe, sonst hätte ich meinen alten Brummbären nie zu sehen bekommen.« Sie zauste ihn zärtlich an den Ohren.
»Ich wär' dir auch nach Berlin nachgereist, Herzle«, beteuerte ihr Mann scherzend.
»Du hättest mich doch gar nicht gekannt – –«
»Aber geahnt – als Ergänzung meines Wesens – eine andere hätt' ich nimmer genommen«, behauptete Rudi.
»Wer kann wissen, ob wir der Ursel nicht auch ihr Lebensglück unterbinden, wenn wir sie in einen ihren Neigungen nicht entsprechenden Beruf zwingen«, steuerte Annemarie weiter auf ihr Ziel los. »Und vielleicht hat sie wirklich das Zeug dazu, eine tüchtige Sängerin zu werden – eine von den Großen.«
»Eitle Mutter!« schalt der Professor. »Man wird leichter eine tüchtige Bankbeamtin, als eine große Sängerin. Wenn halt auch du unvernünftig bist, dann hab' ich freilich einen schweren Stand. Gegen zwei Frauensleut' komm ich nimmer auf.«
»Nein, Rudi, du weißt es ja, daß ich ganz auf deiner Seite stehe. Nur in der Form nicht. Nicht so kraß, nicht so schroff deine väterliche Autorität ausüben. Dagegen bäumt sich ihr Unverstand auf. Ich möchte dir vorschlagen, ihr soweit entgegenzukommen, daß du ihr gestattest, Gesangunterricht zu nehmen, was sie sich doch so brennend wünscht. Unter der Bedingung, daß sie ebenfalls deinen Wünschen entspricht und bei der Bank eintritt. Sieht man dann, es geht nicht, sie fühlt sich unglücklich in dem ihr aufgezwungenen Beruf, kann man immer noch weitere Entschlüsse treffen. Sieh es als einen Versuch an, Rudi – –«
»Versuchskarnickel? Nein, dazu ist mir unser Kleines zu schade. Ich bin für Ganzes, nimmer für Halbes. Mit ernstem Wollen, mit der festen Absicht, ihre Pflicht zu tun, soll sie zur Bank gehen. Dann will ich mich auch nicht gegen die Gesangsstunde sperren. Wohlverstanden, nur für den Privatgebrauch, Annemarie, lediglich zu ihrem Vergnügen.« Der Professor griff jetzt endgültig nach der Zeitung. Er hatte seinen Gleichmut im Gespräch mit seiner Frau wiedergefunden. Frau Annemarie war mit dem Erfolg ihrer Unterredung zufrieden. Nun würde sie auch mit dem Trotzköpfchen, der Ursel, fertig werden. Ach, eine Mutter hat allenthalben zu überbrücken und auszugleichen.
Sie nahm an des Gatten Schreibtisch Platz und griff nach der Kartothek. Die Rechnungen mußten hinaus, das neue Quartal hatte bereits begonnen. Wie sie im Anfang ihrer Ehe Assistentin ihres Mannes gewesen, so war sie allmählich seine Sekretärin, seine rechte Hand bei all seinen wissenschaftlichen Arbeiten geworden. Da war kein Weg, wohin Annemarie ihm in treuer Kameradschaft nicht zu folgen bemüht war.
Zwischen Rezeptblöcken und anderen Formularen schaute ein Brief mit großen steilen Buchstaben heraus. Vronlis letztes Schreiben aus München. Nun war sie schon bald ein halbes Jahr von Hause fort, die Vronli. Die sechs Monate erschienen der Mutter wie die gleiche Anzahl von Jahren. Ein jedes ihrer Küken war ihr gleich fest an das Herz gewachsen; es tat weh, wenn eins sich löste, um eigene Wege, die vom Elternhaus fortführten, zu gehen. Auch mit Vronli hatte es Kämpfe gesetzt. Freilich, nicht so heißblütige, wie soeben mit ihrer jüngeren Schwester. Denn Vronli hatte des Vaters ruhige Art, aber auch seine zähe Bestimmtheit. Sie ließ sich nicht davon abbringen, Säuglingsschwester zu werden, anstatt als Krankenschwester an des Vaters Klinik, wie dieser es wünschte, zu arbeiten. Schon als Kind hatte sie eine Vorliebe gezeigt für alles Schwache, Hilfsbedürftige. Wenn sie die Blumen im Garten pflegte, so galt sicher den wenigst entwickelten, den verkümmerten ihre Hauptsorgfalt. Ein junges Vögelchen, das aus dem Nest gefallen, hatte sie so lange an ihrem Herzen gewärmt, bis es sich wieder belebte. Hatte man eine Maus in der Falle gefangen, so mußte man sie vor Vronli hüten. Denn die gab ihr unweigerlich die Freiheit wieder. Diese zarte Hilfsbereitschaft für alles Kleine, Schwache machte sie zur Säuglingspflege ganz besonders geeignet. Trotzdem es eine Enttäuschung für den Vater bedeutete, auf die pflichttreue, zuverlässige Hilfe seiner Großen verzichten zu müssen, die Mutter hatte auch hier die gütige Vermittlerin gespielt. Freilich hatte sie nicht damit gerechnet, daß das Küken die Schwingen sogleich gebrauchen und davonfliegen würde aus dem elterlichen Nest. Es gab doch in Berlin genug Säuglingsheime, an denen sie tätig sein konnte. Aber nein – das Glück ist ja stets da, wo man nicht ist. Vronli setzte es mit ruhiger Sachlichkeit durch, nach München an das mustergültige Schwabinger Krankenhaus zu gehen.
Und nun? Sah so das Glück aus? Frau Annemarie entfaltete den engbeschriebenen Bogen und begann den Brief zum soundsovielten Male zu lesen. Irgendwo, wohin grade ihr Blick fiel.
»Es ist abends spät. Ich habe diese Woche Nachtwache. Ihr sitzt jetzt traulich im Wohnzimmer zusammen. Vater raucht seine Zigarre, Mutter flickt unbedingt etwas Zerlöchertes. Ursel hat die Schubertlieder beim Wickel und Hansi heimlich Vaters Zigarettenkasten. Ganz deutlich sehe ich Euch alle vor mir. So gemütlich seid Ihr beisammen, daß man auch ganz gern mal auf ein Stündchen zu Euch auf Besuch käme. Am Tage hat man gar keine Zeit, heimzudenken. Man ist wie eine Maschine, die frühmorgens um sechs in Betrieb gesetzt und abends wieder ausgeschaltet wird. Alles geht hier systematisch am Schnürchen, ein Tag wie der andere. Wenn nicht mein Kalender wäre, der Weihnachtskalender von unserm Urselchen, der mir durch rote Farbe anzeigt, daß wieder mal Sonntag ist, ich würde nicht wissen, daß eine Woche verflossen ist. Abends sind einem die Glieder so schwer, als wären sie wirklich eiserne Teile einer Maschine; man sinkt in sein Bett, knapp, daß man noch die Fähigkeit hat, einen abgerissenen Knopf anzunähen. Aber denkt nur nicht, daß ich mich dabei nicht wohlfühle. Ihr wißt ja, Regelmäßigkeit und pünktliche Pflichteinteilung entspricht meinem – wie Ursel es nennt – pedantischen Wesen. Wie viel Freude gibt einem der Tag. Wie befriedigt ist man, wenn man eins von den kleinen elenden Geschöpfchen, die man meist in jämmerlichem Zustand übernimmt, durch liebevolle Sorgfalt sich entwickeln sieht. Fünfzehn Stück habe ich jetzt zu bemuttern, eine ganze Mandel. Behutsam wie mit Eiern muß man tatsächlich mit ihnen umgehen. Die Windel bildet den Drehpunkt meiner Gedanken. Der Haupttag in der Woche ist der Wiegetag; darauf konzentriert sich alles Hoffen. Vaterle, nach einer glücklichen Operation kannst Du nicht stolzer sein, als ich es bin, wenn die Wiegetabelle die vorgeschriebenen Gramme Gewichtszunahme aufweist. Neulich hat der Chefarzt mich, trotzdem ich dem Dienstalter nach die jüngste Schwester hier bin, als Erfolgreichste aufgestellt. Das spornt von neuem an. – Hier muß ich unterbrechen. Die kleine Gesellschaft meldete sich und wollte frisch gebündelt werden. Nun geht es bereits auf Mitternacht. Ihr seid sicher schon im Bett. Schlaft wohl, Ihr all meine Lieben daheim. Ich will jetzt meine Kinder baden. ›Um Mitternacht?‹ höre ich Euch erstaunt fragen. Vater ist sicher nicht einverstanden damit. Mutti sogar empört, daß man die Kleinen aus nächtlichem Schlaf reißt. ›So erzieht man kein Kind zur Ordnung – ich habe euch drei doch ganz gut imstande gehabt; das Alte ist immer noch das Beste.‹ Habe ich Deine Gedanken erraten, Mutti? Im übrigen bin ich ebenfalls Eurer Ansicht, daß man die Kleinen daran gewöhnen soll, die Nacht durchzuschlafen. Auch finde ich Tagesarbeit angenehmer als Nachtarbeit. Aber der Warmwasserverbrauch hier in dem großen Krankenhaus ist so ungeheuer, daß für unsere Säuglinge das Badewasser nachts entnommen werden muß. Den kleinen Herrschaften selbst ist das ganz gleichgültig. Ihr solltet sehen, wie putzig sie sich an meinen Arm anklammern, wie behaglich sie sich dann in dem warmen Bad strecken, und wie munter sie strampeln. Da quarrt schon wieder eins. Natürlich fällt der Chor pflichtschuldigst ein. Das wird immer gleich epidemisch. Auf ein andermal, meine Lieben.« – – –
Frau Annemarie ließ das Blatt sinken. Sie heftete den