Nesthäkchens Backfischzeit. Else Ury
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Читать онлайн книгу Nesthäkchens Backfischzeit - Else Ury страница 9
Vera hatte die ganze Tragweite der Worte Fräulein Neuberts noch nicht recht begriffen. Sie weinte mit, weil die anderen weinten.
Zwei Mädchenhände aber hatten sich zornig zu Fäusten geballt, und ein roter Mund hatte empört die Worte herausgestoßen: »Na, das ist aber stark!«
»Hat hier eine noch etwas zu sagen?« Die Eulenbrillengläser durchbohrten den vorlauten Backfisch.
Die strahlenden Blauaugen Annemaries senkten sich nicht. Sie hielten der Eulenbrille stand.
Auch jetzt schwieg Doktors Nesthäkchen nicht, trotzdem die neben ihm sitzende Vera es beschwörend zupfte, doch bloß den Mund zu halten. Heulen, nein, das tat Annemarie nicht. Aber mit ihrer Meinung hielt sie nicht zurück.
»Wir haben den Tadel nicht verdient, Fräulein Neubert,« sagte sie mit lauter Stimme, die nur vor Entrüstung zitterte. »Wir waren weder ungehorsam, da Sie uns ja nicht verboten hatten, in die Konditorei zu gehen, noch haben wir etwas Unschickliches getan. Der Konditor wollte sich uns für das Schneeschippen erkenntlich zeigen und uns bei der Kälte etwas Warmes zukommen lassen. Meine Eltern haben sich darüber gefreut und durchaus nichts Ungehöriges dabei gefunden.« Doktors Nesthäkchen atmete tief auf. So – nun wußte Fräulein Neubert wenigstens Bescheid.
Die Klasse sah halb mit Bewunderung, halb mit Besorgnis auf die kühne Sprecherin. Au weh – was würde jetzt kommen? Alles hielt den Atem an.
»Na, das ist wirklich stark!« Fräulein Neubert brauchte, ohne es zu wissen, Annemaries Ausdruck von vorhin. »Du willst deiner Lehrerin Vorschriften machen? Kein Wort mehr! Was die Eltern zu Hause für richtig befinden, geht mich nichts an. Ich habe dafür zu sorgen, daß die Schuldisziplin nicht verletzt wird. Und das tue ich! Erledigt! Wo waren wir voriges Mal stehen geblieben?«
»Bei Johann Fischart,« rief es hier und dort. O weh, heute mußte sich jede zusammennehmen. Heute war mit Fräulein Neubert nicht gut Kirschen essen.
Erledigt? Für Annemarie war die Angelegenheit noch lange nicht erledigt. Trotzig warf sie den Blondkopf zurück. So 'ne Ungerechtigkeit – so 'ne haarsträubende Ungerechtigkeit! Aber das ließ sie nicht stecken. Ganz gewiß nicht. Sie ging zum Direktor und beschwerte sich. Oder – – – Annemarie zog die Stirn kraus, ein Zeichen, daß sie angestrengt nachdachte. Aber nicht Johann Fischart und seinem glückhaften Schiff von Zürich, das die Lehrerin mit der Klasse durchnahm, galten ihre Gedanken. Die wanderten ganz wo anders hin.
Hatte Klaus nicht erzählt, daß in seinem Gymnasium von den Jungen Schülerräte gebildet worden waren? Annemarie hatte eigentlich nicht viel davon begriffen. Nur soviel war ihr klar geworden, daß die Schüler durch ihren Schülerrat Beschwerde über Lehrer erheben konnten. »Jetzt lassen wir uns nichts mehr gefallen,« hatte Klaus großsprecherisch verkündet. Vater allerdings war durchaus nicht mit den Worten seines Sprößlings einverstanden gewesen. »Das fehlte noch, daß ihr, dummen Jungs, über eure Lehrer zu Gericht sitzt. Hat denn die Revolution euch allen die Köpfe verdreht? Nächstens werden noch Säuglingsräte gebildet, die über ihre Eltern aburteilen,« so hatte er ärgerlich geäußert. Laut auf hatte sein Nesthäkchen über die Säuglingsräte gelacht, und Klaus' Schülerräte waren ihr recht dumm vorgekommen.
Jetzt aber in ihrer Empörung erschienen Annemarie die Schülerräte durchaus nicht mehr dumm. Im Gegenteil, dringend notwendig kamen sie ihr vor, um der bisher unumschränkten Gewalt des Lehrers eine Grenze zu setzen. Was an Klaus' Gymnasium möglich war, ging auch bei ihnen. Sie waren ja auch im Gymnasium, sie waren auch nicht dümmer als die Gymnasiasten. Sie ließen sich auch nicht alles gefallen, wenn sie auch Mädels waren. Nein, ganz gewiß nicht!
»Du, Vera –« die neben ihr sitzende Freundin erhielt einen kleinen Rippenstoß – »du, ich gründe einen Schülerrat. Dann kann sich Fräulein Neubert aber in acht nehmen.«
»Wie? –« Vera sah verdutzt drein. Sie hatte keine Ahnung, was Annemarie eigentlich wollte.
»Einen Schülerrat gründe ich, der über Fräulein Neubert Gericht abhält und – – –«
»Vera Burkhard, gib den Inhalt des eben besprochenen Gedichtes an!« Der Lehrerin war die Unaufmerksamkeit der beiden nicht entgangen.
Vera schnellte empor und stand stumm da.
»Einst fuhren Büchsenschützen zu Schiff von Zürich nach Straßburg.« So laut auch Annemarie vorsagte, Vera verstand in ihrer Aufregung nur die Hälfte.
»Büchsen sind gefuhren nach – nach die Züricher Strraße.« Der Klang haftete nur im Ohr der Freundin.
Schallendes Gelächter erhob sich in der Klasse. Die junge Deutschpolin mit ihrem mangelhaften Deutsch lieferte oft Lachstoff. Sie hatte dann eine reizende Art, mitzulachen. Heute aber lachte Vera nicht mit den anderen. Ängstlich blickte sie zu Fräulein Neubert hin, die ein gar zu böses Gesicht machte.
»Ich denke doch, Vera Burkhard, du hättest allen Grund, mich jetzt durch doppelte Aufmerksamkeit zufriedenzustellen. Abgesehen davon, daß du jeden Augenblick dazu benutzen solltest, dein fehlerhaftes Deutsch zu verbessern. Ich kann dir in der Konferenz unmöglich die Reife für Obersekunda zusprechen.«
Die Tränen der Gescholtenen begannen zu fließen. Aber tröstend wisperte es von nebenan: »Heule nicht. Verachen, du bleibst nicht sitzen. Dafür wird schon mein Schülerrat sorgen.«
Wirklich versiegten die Tränen. Vera stellte sich unter Schülerrat etwas Ähnliches wie den Herrn Schulrat vor. Ja, wenn der dafür sorgen würde!
»Marlene Ulrich, gib du den Inhalt des Gedichtes an.«
Die Aufgerufene schien aus einer anderen Welt zu kommen, so versunken war sie noch immer in ihren Schmerz. Aber sie nahm sich zusammen.
»Im 16. Jahrhundert fuhren Büchsenschützen zu Schiff von Zürich nach – nach – – –« Sie stockte, wurde rot und senkte verlegen den Kopf.
»Nach Straßburg,« half Annemarie, trotzdem sie mehrere Plätze entfernt saß, kränzchenschwesterlich aus, während die Eulengläser ihr einen vernichtenden Blick zuwarfen.
»Nach Straßburg.« Marlene atmete erleichtert auf. »Und zum Zeichen, daß sie die Reise in einem Tage zurücklegten, brachten sie einen Kessel mit Hirsebrei, der in Zürich gekocht war, noch warm nach Straßburg,« vollendete sie fließend.
»Setzen!« Fräulein Neubert machte sich eine Notiz in ihrem Büchlein. »Zu welcher Gattung Gedichte gehört das glückhafte Schiff von Zürich?«
Die Untersekunda machte gerade keine schlauen Gesichter.
Nur ein Zeigefinger erhob sich. Er gehörte zu Annemarie Braun, die für deutsche Literatur besonderes Interesse hatte. Die Lehrerin schien es nicht zu bemerken.
»Weiß es keine?«
»Ich – ja, ich – – –« Zu überhören war Annemaries laute Stimme wirklich nicht. Aber Fräulein Neubert brachte das Kunststück fertig.
»Ist es ein lyrisches Gedicht?« fragte sie wieder.
»Nein« – »nee.« – Annemaries Stimme rief am lautesten von allen: ihr Zeigefinger fuhr wild im Kreise durch die Luft.
»Also was für eins?«
»Ein erzählendes.«