Nesthäkchen und der Weltkrieg. Else Ury

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Nesthäkchen und der Weltkrieg - Else Ury

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Das war ein Reiseandenken, das sie sich mitgebracht.

      »Siehst du, Annemie, das kommt davon, wenn man so unmädchenhaft ist. Nun wird es zu spät zum Spazierengehen, wenn du dich erst umkleiden mußt.«

      So zog das erste Wiedersehen der beiden Freundinnen betrübende Folgen nach sich. Annemarie aber nahm sich vor, nie wieder unmädchenhaft zu sein. Wie lange würde sie wohl daran denken?

      Am nächsten Tage begann die Schule.

      Fünf Minuten vor dreiviertel acht traten Annemarie Braun und Margot Thielen zu gleicher Zeit aus ihrer Tür. Wie froh war Margot, wieder den Schulweg gemeinsam mit der Freundin zurücklegen zu können. Annemarie aber war noch viel glücklicher. Sie freute sich unbändig auf die Schule, aus der sie über ein Jahr fort gewesen. Was würden die Kinder nur zu ihr sagen? Und Fräulein Hering, die immer besonders nett zu ihr gewesen!

      Der Schulweg war heute tausendmal interessanter als früher. Die Straßen wimmelten von Feldgrauen. Graue Militärautos töfften ratternd dahin. Am Bahnhof kamen und gingen die Truppentransporte. Aus der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ertönte Orgelton. Dort fand jetzt jeden Morgen Bittgottesdienst für die ins Feld Ziehenden statt.

      Vor dem roten Ziegelsteingebäude, dem Schubertschen Mädchenlyzeum, das Doktors Nesthäkchen wie ein guter alter Bekannter grüßte, waren eine Menge Schulkinder versammelt. Warum gingen die denn bloß nicht hinein? Es war doch durchaus nicht mehr zu früh! Das summte wie in einem Bienenstock durcheinander. Je näher die Freundinnen kamen, um so auffälliger wurde die Erregtheit der draußen sich zusammenscharenden Schülerinnen.

      Am Ende gab es wieder einen Sieg?

      »Geht gar nicht erst rein, die Schule fällt aus!« rief ihnen Erna Rust, eine Mitschülerin ihrer Klasse, schon von weitem entgegen.

      »Jawoll«, anführen ließ sich Doktors Nesthäkchen nicht so leicht. Stracks ging es Margot, die ein wenig unschlüssig stehen blieb, voran in den Schulhof.

      Hier dasselbe Bild wie draußen. Überall lebhaft beratende Schülerinnen. Dazwischen fremde Männer, welche Bänke und Tische schleppten, und jetzt – laut los lachte der Mädchenchor. Da trug ja Professor Möbus, der französische Lehrer, eigenhändig ein Katheder auf dem Rücken. Ja, war denn die ganze Welt aus den Fugen gegangen? Was bedeutete denn das bloß?

      »Tag, Margot – Tag, Annemie, fein, daß du wieder da bist – wißt ihr's schon?« Die beiden Freundinnen Marlene und Ilse stürzten den beiden entgegen. Jede wollte gern die erste sein, welche die Neuigkeit berichtete.

      »Was denn – was ist denn bloß los, hat denn die ganze Schule einen Rappel bekommen?« rief Annemarie ziemlich respektlos. Sie brannte vor Neugier.

      Aber ehe Marlene oder Ilse noch zur Antwort ansetzen konnten, überschrie sie die dazukommende Marianne: »Unsere Schule wird als Lazarett gebraucht, wir müssen umziehen.«

      »Wa-as?« Margot blieb der Mund vor Staunen offen.

      Annemarie aber hatte gleich eine Flut von Fragen bei der Hand.

      »Sind die Verwundeten schon drin, werden unsere Lehrerinnen nun Schwestern – haben wir nun während des ganzen Krieges keine Schule?«

      »Ja, Kuchen – die Schule zieht um«, schrien die Freundinnen wieder durcheinander. »Aber wir wissen noch nicht wohin.«

      Nein, war das interessant. Ein Umzug der Schule hatte noch keine der vielen hundert Schülerinnen des Mädchenlyzeums erlebt. Ging man nun einfach nach Hause, oder mußte man noch da bleiben? Keine wußte es, und das erhöhte natürlich die Aufregung.

      »Ich gehe ruhig in die Klasse, es hat doch noch kein Lehrer etwas gesagt«, entschied die fleißige Margot.

      »Fällt mir nicht im Traume ein, hier auf dem Hof ist es viel lustiger. Und am Ende sind überhaupt schon Soldaten drin«, Doktors Nesthäkchen strahlte über die unvorhergesehenen Ereignisse.

      »Militär ist noch nicht da, es muß erst alles umgeräumt werden«, erklärte Marianne Davis eifrig.

      »Höchstens könnten wir mit in die Rumpelkammer verladen werden«, lachte Ilschen mit den blonden Haarschnecken.

      Da erklang laut die Stimme eines Lehrers durch all den Tumult, all das Mädchengesumm hindurch: »Ruhe – die Schülerinnen sollen sich in die Turnhalle begeben.«

      »Wie gut, daß wir nicht nach Hause gegangen sind!« Margot zog ihre Freundin Annemarie den sich in die Turnhalle Drängenden nach.

      Die geräumige Turnhalle war knüppeldick vollgestopft mit großen und kleinen Mädchen, blonden und schwarzen. Die sonst streng voneinander gesonderten Klassen waren willkürlich durcheinander gestreut. Wie der Krieg draußen im großen die sonst voneinander geschiedenen Klassen, reich und arm, Gebildete und Ungebildete, durcheinander wirbelte, so tat er es hier auch im kleinen. Auf den langen Schwebebäumen hatten es sich kecke Dingelchen aus der zehnten Klasse bequem gemacht, trotzdem die erste Klasse meinte, diese Plätze kämen ihr zu. Annemarie Braun aber hatte sogar hoch oben auf einem Barren Platz genommen. Von hier aus übersah sie die Versammlung besonders gut. Margot, die sie in ihrer Tugendhaftigkeit durchaus wieder herunterziehen wollte, hatte damit kein Glück, übermütig baumelte Doktors Nesthäkchen auf ihrem Barren mit den in geringelten Wadenstrümpfen steckenden Beinen.

      Ein Teil der Lehrer und Lehrerinnen betraten die Halle. Dicht neben Annemarie tauchte Fräulein Herings liebes Gesicht auf.

      »Na, wieder da, Annemarie Braun? Das ist ja schön, daß du wieder zu uns zurückkommst. Wie ein kleines Fischermädel so braun bist du gebrannt!« Fräulein Hering trat näher und reichte der so lange Fortgewesenen freundlich die Hand.

      Auch Annemarie streckte ihre Rechte aus – o weh – da verlor sie das Gleichgewicht auf ihrer schmalen Stange. In dem Bemühen, nicht herabzupurzeln, griff sie auch mit der Linken hilfesuchend nach dem, was ihr gerade das Nächste war. Mit beiden Armen fiel sie, ohne es zu wollen, der Lehrerin um den Hals. Die lachte herzlich über die zärtliche Begrüßung, und die Mädel ringsum wieherten förmlich vor Vergnügen.

      Das war Doktors Nesthäkchen trotz aller Freimütigkeit denn doch etwas peinlich. Aber zum Glück betrat gerade der Direktor die rasch aus Sprungkästen und Matratzen erbaute Kanzel.

      Er räusperte sich, aber er sprach noch nicht. Erst stimmte der Gesanglehrer Herr Lustig, zum größten Erstaunen der Kinder in feldgrauer Uniform, mit seiner schönen Bassstimme »Es braust ein Ruf wie Donnerhall« an, und hell fielen die Schülerinnen alle ein. Feierlich zogen die Klänge durch die Turnhalle.

      Dann sprach der Herr Direktor, schlicht und warm:

      »Meine lieben Schülerinnen! Als wir uns vor etwa fünf Wochen trennten, um nach fleißiger Arbeit neue Kräfte in der Erholung zu sammeln, da ahnten wir nicht, welcher gewaltige Sturm über unser teures Vaterland daherbrausen würde. Die deutsche Eiche ist stark in ihren Wurzeln, ob auch viele feindliche Hände sie zu erschüttern suchen, sie wankt nicht. Nur um so fester steht sie da, nur um so herrlicher wird sie grünen. Jede von euch hat wohl ein liebes Familienmitglied mit hinausziehen lassen in den heiligen Kampf um Deutschlands Freiheit, und ist stolz darauf. Aus unserem Kreise haben sich ebenfalls verschiedene Lehrer gelöst, die ins Feld gezogen, mehrere Lehrerinnen haben sich zu Helferinnen des Roten Kreuzes gemeldet. Aber auch von der Schule selbst verlangt der Krieg seine Opfer. Unsere Räume sind dazu ausersehen worden, den Verwundeten eine Genesungsstätte zu werden. Trotz eifrigen Bemühens ist es mir nur gelungen, vier Arbeiter zum

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