Götzen-Dämmerung. Friedrich Wilhelm Nietzsche
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Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates faszinierte: er schien ein Arzt, ein Heiland zu sein. Ist es nötig, noch den Irrtum aufzuzeigen, der in seinem Glauben an die »Vernünftigkeit um jeden Preis« lag? – Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der décadence herauszutreten, daß sie gegen dieselbe Krieg machen. Das Heraustreten steht außerhalb ihrer Kraft: was sie als Mittel, als Rettung wählen, ist selbst nur wieder ein Ausdruck der décadence – sie verändern deren Ausdruck, sie schaffen sie selbst nicht weg. Sokrates war ein Missverständnis; die ganze Besserungs-Moral, auch die christliche, war ein Missverständnis... Das grellste Tageslicht, die Vernünftigkeit um jeden Preis, das Leben hell, kalt, vorsichtig, bewußt, ohne Instinkt, im Widerstand gegen Instinkte war selbst nur eine Krankheit, eine andere Krankheit – und durchaus kein Rückweg zur »Tugend«, zur »Gesundheit«, zum Glück... Die Instinkte bekämpfen müssen – das ist die Formel für décadence: so lange das Leben aufsteigt, ist Glück gleich Instinkt. –
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– Hat er das selbst noch begriffen, dieser Klügste aller Selbst-Überlister? Sagte er sich das zuletzt, in der Weisheit seines Mutes zum Tode?... Sokrates wollte sterben – nicht Athen, er gab sich den Giftbecher, er zwang Athen zum Giftbecher... »Sokrates ist kein Arzt«, sprach er leise zu sich: »der Tod allein ist hier Arzt... Sokrates selbst war nur lange krank...«
Die »Vernunft« in der Philosophie
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Sie fragen mich, was alles Idiosynkrasie bei den Philosophen ist?... Zum Beispiel ihr Mangel an historischem Sinn, ihr Haß gegen die Vorstellung selbst des Werdens, ihr Ägyptizismus. Sie glauben einer Sache eine Ehre anzutun, wenn sie dieselbe enthistorisieren, sub specie aeterni – wenn sie aus ihr eine Mumie machen. Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Händen. Sie töten, sie stopfen aus, diese Herren Begriffs-Götzendiener, wenn sie anbeten – sie werden allem lebensgefährlich, wenn sie anbeten. Der Tod, der Wandel, das Alter ebensogut als Zeugung und Wachstum sind für sie Einwände – Widerlegungen sogar. Was ist, wird nicht; was wird, ist nicht... Nun glauben sie alle, mit Verzweiflung sogar, ans Seiende. Da sie aber dessen nicht habhaft werden, suchen sie nach Gründen, weshalb man 's ihnen vorenthält. »Es muß ein Schein, eine Betrügerei dabei sein, daß wir das Seiende nicht wahrnehmen: wo steckt der Betrüger?« – »Wir haben ihn«, schreien sie glückselig, »die Sinnlichkeit ist's! Diese Sinne, die auch sonst so unmoralisch sind, sie betrügen uns über die wahre Welt. Moral: loskommen von dem Sinnentrug, vom Werden, von der Historie, von der Lüge – Historie ist nichts als Glaube an die Sinne, Glaube an die Lüge. Moral: Neinsagen zu allem, was den Sinnen Glauben schenkt, zum ganzen Rest der Menschheit: das ist alles ›Volk‹. Philosoph sein, Mumie sein, den Monotono-Theismus durch eine Totengräber-Mimik darstellen! – Und weg vor allem mit dem Leibe, dieser erbarmungswürdigen idée fixe der Sinne! behaftet mit allen Fehlern der Logik, die es gibt, widerlegt, unmöglich sogar, ob er schon frech genug ist, sich als wirklich zu gebärden!«...
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Ich nehme, mit hoher Ehrerbietung, den Namen Heraklits beiseite. Wenn das andere Philosophen-Volk das Zeugnis der Sinne verwarf, weil dieselben Vielheit und Veränderung zeigten, verwarf er deren Zeugnis, weil sie die Dinge zeigten, als ob sie Dauer und Einheit hätten. Auch Heraklit tat den Sinnen unrecht. Dieselben lügen weder in der Art, wie die Eleaten es glauben, noch wie er es glaubte – sie lügen überhaupt nicht. Was wir aus ihrem Zeugnis machen, das legt erst die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer... Die »Vernunft« ist die Ursache, daß wir das Zeugnis der Sinne fälschen. Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht... Aber damit wird Heraklit ewig recht behalten, daß das Sein eine leere Fiktion ist. Die »scheinbare« Welt ist die einzige: die »wahre Welt« ist nur hinzugelogen...
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– Und was für feine Werkzeuge der Beobachtung haben wir an unsern Sinnen! Diese Nase zum Beispiel, von der noch kein Philosoph mit Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar einstweilen das delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht: es vermag noch Minimaldifferenzen der Bewegung zu konstatieren, die selbst das Spektroskop nicht konstatiert. Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugnis der Sinne anzunehmen – als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. Der Rest ist Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnistheorie. Oder Formal-Wissenschaft, Zeichen-Lehre: wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem: ebensowenig als die Frage, welchen Wert überhaupt eine solche Zeichen-Konvention, wie die Logik ist, hat. –
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Die andere Idiosynkrasie der Philosophen ist nicht weniger gefährlich: sie besteht darin, das Letzte und das Erste zu verwechseln. Sie setzen das, was am Ende kommt – leider! denn es sollte gar nicht kommen! – die »höchsten Begriffe«, das heißt die allgemeinsten, die leersten Begriffe, den letzten Rauch der verdunstenden Realität an den Anfang als Anfang. Es ist dies wieder nur der Ausdruck ihrer Art zu verehren: das Höhere darf nicht aus dem Niederen wachsen, darf überhaupt nicht gewachsen sein... Moral: alles, was ersten Ranges ist, muß causa sui sein. Die Herkunft aus etwas anderem gilt als Einwand, als Wert-Anzweiflung. Alle obersten Werte sind ersten Ranges, alle höchsten Begriffe, das Seiende, das Unbedingte, das Gute, das Wahre, das Vollkommne – das alles kann nicht geworden sein, muß folglich causa sui sein. Das alles aber kann auch nicht einander ungleich, kann nicht mit sich im Widerspruch sein... Damit haben sie ihren stupenden Begriff »Gott«... Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes gesetzt, als Ursache an sich, als ens realissimum... Daß die Menschheit die Gehirnleiden kranker Spinneweber hat ernst nehmen müssen! – Und sie hat teuer dafür gezahlt!...
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– Stellen wir endlich dagegen, auf welche verschiedne Art wir (– ich sage höflicherweise wir...) das Problem des Irrtums und der Scheinbarkeit ins Auge fassen. Ehemals nahm man die Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit, als Zeichen dafür, daß etwas da sein müsse, das uns irreführe. Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurteil uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein anzusetzen, uns gewissermaßen verstrickt in den Irrtum, nezessitiert zum Irrtum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber sind, daß hier der Irrtum ist. Es steht damit nicht anders als mit den Bewegungen des großen Gestirns: bei ihnen hat der Irrtum unser Auge, hier hat er unsre Sprache zum beständigen Anwalt. Die Sprache gehört ihrer Entstehung nach in die Zeit der rudimentärsten Form von Psychologie: wir kommen in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzungen der Sprach-Metaphysik,