Der blaurote Methusalem. Karl May
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Richard, der älteste Sohn der Witwe, war ein sehr begabter Knabe. Seine Lehrer liebten ihn und rieten seiner Mutter, ihn studieren zu lassen. Leider aber war sie dazu zu arm. Das stimmte sie traurig. Sie wußte sehr wohl, daß das Handwerk einen goldenen Boden habe, doch empfand ihre Mutterliebe es mit stillem Kummer, daß sie dem Knaben nicht eine seinen Anlagen entsprechende Erziehung und Zukunft bieten könne.
Da war eines abends der »Methusalem« zu ihr gekommen und hatte sich mit ihr über dieses Thema in seiner kurzen, bestimmten Weise ausgesprochen. Sie hatte seinen Antrag, obgleich derselbe sie mit Entzücken erfüllte, bescheiden abgelehnt; er aber hatte das vertrauliche Gespräch zum Schlusse gebracht, indem er in entschiedenem Tone erklärte: »Meine liebe Frau Stein, Sie werden bemerkt haben, daß ich nicht gern von mir und meinen Verhältnissen spreche; heute will ich einmal von dieser Gepflogenheit abweichen. Mein Vater war ein reicher Brauer. Er hatte den Ehrgeiz, sich eines gelehrten und berühmten Sohnes rühmen zu wollen. Ich sträubte mich dagegen, denn ich wollte nichts andres werden, als was auch er geworden war, ein Brauer. Mein Sträuben half nichts. Ich mußte Faba, die Bohne, deklinieren, obgleich mir der Hopfen über alle Bohnen ging. Ueber das Weitere will ich schweigen. Der Vater verwandelte seine Brauerei in ein Aktienunternehmen und hinterließ mir ein bedeutendes Vermögen. Ich aber habe es nur bis zum bemoosten Haupte gebracht, das heißt, zu einem akademischen Schlachtenbummler, welcher dem wirklichen Streiter verächtlich erscheint. Ich beginne nun nachgerade die ganze Leere dieses zwecklosen Daseins schmerzlich zu empfinden. Ich schäme mich meiner selbst. Ich will nicht länger ein unnützes Mitglied der menschlichen Gesellschaft sein. Ich will Thaten thun, und meine erste That soll darin bestehen, daß ich in Ihrem Sohne Ersatz biete für meine verlorene Studienzeit. Er soll studieren, und ich zahle für ihn. Das ist das Wenigste, was ich thun kann. Und das darf Sie nicht bedrücken, denn nicht Sie werden mir dadurch etwas schuldig, sondern ich tilge eine Schuld, welche mir schwer auf dem Herzen liegt. Es ist meine Ueberzeugung, daß Sie kein Recht besitzen, mich mit meinem Antrage abzuweisen. Indem Sie Ihren Sohn glücklich machen, leisten Sie mir einen hohen Dienst, den ich Ihnen niemals vergessen werde. Also sagen Sie ja; schlagen Sie ein, und damit mag die Sache beschlossen und genehmigt sein!«
Seit jener Zeit besuchte Richard das Gymnasium, und der »Methusalem« wachte über ihn, wie eine Henne über ihr einziges Küchlein wacht. Dieses Küchlein war jetzt siebzehn Jahre alt geworden und gab sich alle Mühe, die Hoffnungen der Mutter und des »Onkel Methusalem« zu erfüllen.
Als der letztere jetzt eintrat mit dem Briefe aus China in der Hand, fiel sein Blick auf ein Bild stillen Familienfleißes. Frau Stein war mit einer Plätterei beschäftigt. Der Gymnasiast saß tief auf eine Landkarte gebeugt, deren Linien er mit der Spitze seines Bleistiftes folgte. Seine jüngere Schwester war an der Nähmaschine beschäftigt, welche der Student ihr am letzten Weihnachtsfeste beschert hatte, und der kleine sechsjährige Walther saß mäuschenstill hinter dem Ofen und mühte sich ganz ebenso mit einem Christgeschenke ab. Er hatte sich nämlich heimlich des Wichsapparates bemächtigt, um seinem ledernen Hanswurste die Stiefel blank zu machen. Das kostete ihm gar sauren Schweiß, und weil er sich die perlenden Tropfen nicht mit der Hand, sondern mit der Bürste abwischte, so hatte er bald den ganzen Inhalt der Wichsschachtel im Gesichte kleben.
Der »Methusalem« nahm sich kaum Zeit, zu grüßen. – »Frau Stein,« fragte er, »haben Sie früher einmal Obergasse 12 parterre gewohnt?«
»Ja,« antwortete sie.
»Hieß Ihr Mann Joseph Ferdinand?«
»Ja.«
»So stimmt es. Der Brief ist an Sie! Hier ist er.«
Er reichte ihr denselben hin. Sie nahm und betrachtete ihn, las die Adresse und fragte im Tone der Verwunderung: »Nicht von der Post! Wo ist er her?«
»Aus China. Ye-Kin-Li gab ihn mir.«
»Aus – – China! Wer könnte mir von dorther schreiben? Es ist ja ganz unmöglich, daß dort ein Bekannter von uns existiert. Dieser Brief kann nicht für mich bestimmt sein.«
»Er ist für Sie! Die Adresse stimmt ja genau.«
»Bitte, Mutter, zeig' einmal her!« sagte Richard, indem er herbeitrat und nach dem Briefe griff. Er betrachtete die Adresse und entschied sodann: »Er ist an den Vater gerichtet. Dieser lebt nicht mehr, folglich hast du das Recht, den Brief zu öffnen. Das ist gar nicht zu bestreiten.«
Dabei hatte er auch schon das Couvert mit dem Federmesser ausgeschnitten. Er nahm den eng beschriebenen Bogen, den es enthielt, heraus und warf, nachdem er ihn entfaltet hatte, einen Blick auf die Unterschrift.
»Vom Onkel Daniel!« rief er schnell.
»Der war doch in Amerika und ist verschollen,« antwortete seine Mutter.
»Er ist nicht tot, wie wir bisher geglaubt haben. Welch eine Freude, daß er noch lebt! Hört, was er schreibt! Ich will den Brief vorlesen.«
Der »Methusalem« wollte sich entfernen, wurde aber aufgefordert, zu bleiben. Vor ihm gab es keine Familiengeheimnisse.
Der Inhalt des Briefes mußte von großer Wichtigkeit sein, denn der Student blieb weit über eine Stunde bei seiner Wirtin, und als der Wichsier einmal an der Thüre vorüberging und infolge eines frohlockenden Rufes, welcher drinnen ausgestoßen wurde, stehen blieb, hörte er, obgleich er die einzelnen Worte nicht verstehen konnte, daß jedenfalls eine Beratung abgehalten wurde, deren Verlauf ein sehr erregter zu sein schien.
»Wat da drinnen losjelassen worden ist, dat scheint so eine Art von Kriegsrat zu sind,« murmelte er vor sich hin. »Ich ziehe mir zurück, sonst könnte ich der Avantgarde unter die Pferde geraten.«
Er that sehr klug daran, denn kaum hatte er sich entfernt, so kam sein Herr in höchster Eile heraus, eilte in seine Wohnung, packte den Wichsier, als er ihn dort erblickte, an den beiden Schultern und rief in freudigem Tone: »Gottfried, das Schlaraffenleben hat ein Ende! Wir verreisen!«
»So! Wohin? Vielleicht wieder mal nach Jüterbogk, um den dortigen Wein zu probieren?«
Er machte ein sehr saures Gesicht.
»Nein, nein, weiter, viel weiter! Bist du zur Seekrankheit geneigt?«
»Unjeheuer sehr!«
»Woher weißt du das?«
»Weil mein echt jermanischer Magen kein Wasser vertragen kann. Er will immer noch eins, ehe er jeht, aber natürlich nur kein Wasser!«
»So bleibst du da, dann gehe ich zur See!«
»Dat ist ja nicht jefährlich. Zur See kann man jehen, ohne die Seekrankheit zu bekommen. Man muß nur am Wasser stehen bleiben.«
»Aber ich will über die See, über das Meer hinüber, nach Asien!«
»Alle juten Jeister!« rief Gottfried, die Hände zusammenschlagend.
»Nach