Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard Kipling
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Mit fortschreitender Nacht nahm die schwindelerregende Kreiselbewegung noch an Geschwindigkeit zu. Aber die Dolen waren ermattet, fürchteten sich, die stärkeren Wölfe anzugreifen, und wagten trotzdem noch nicht zu fliehen. Mogli fühlte das Ende des Kampfes herannahen, begnügte sich deshalb damit, zu schlagen und die Hunde kampfunfähig zu machen. Verwegener wurden die Jährlinge; Zeit blieb jetzt, hin und wieder Atem zu schöpfen und einem Freund etwas zuzurufen. Das Aufblitzen des Messers reichte schon aus, um einen Dolen fortzutreiben.
»Viel Fleisch ist nicht mehr auf den Knochen«, jappte Graubruder. Er blutete aus zwanzig Wunden.
»Aber der Knochen ist noch zu knacken«, sagte Mogli. »Aowawa! So schaffen wir von der Dschungel!« die rote Klinge fuhr wie züngelnde Lohe an der Flanke eines Dolen entlang, dessen Kruppe verdeckt war von einem umklammernden Wolf.
»Meine Beute«, schnaubte der Wolf durch gekrampfte Nüstern. »Laß ihn mir!«
»Ist dein Wanst noch leer, Auslieger?« fragte Mogli. Won-tolla war furchtbar zugerichtet, aber sein Biß hatte den Dolen gelähmt, der sich nicht mehr drehen und ihn erreichen konnte.
»Bei dem Bullen, für den Baghira mich in das Rudel einkaufte«, rief Mogli mit bitterem Lachen, »der Schwanzlose ist es!« Wirklich war es der große rotbraune Führer.
»Weise ist es nicht, Wolfsjunge und Lahinis zu töten«, fuhr Mogli philosophisch fort und wischte sich das Blut aus den Augen, »außer man mordet zugleich auch den Auslieger; und es ist mir im Wanst, daß dieser Won-tolla dich töten wird.«
Ein Dole sprang dem Führer zu Hilfe; aber ehe seine Zähne Won-tollas Flanke erreichten, steckte ihm Moglis Messer in der Kehle. Graubruder erledigte ihn vollends.
»Und so schaffen wir in der Dschungel!« rief Mogli.
Won-tolla sagte kein Wort, sein Leben verrann, aber seine Zähne schlossen sich fester und fester. Der Dole erschauerte, sein Kopf sank. Still lag er; Won-tolla brach über ihm zusammen.
»Ha! die Blutschuld ist gezahlt«, sagte Mogli. »Singe den Sang, Won-tolla.«
»Er jagt nicht mehr«, murmelte Graubruder. »Auch Akela ist seit langem still.«
»Zerknackt ist der Knochen«, donnerte Phao, Sohn des Phaona. »Sie fliehen! Tötet ohne Gnade, ihr Jäger vom freien Volk!«
Dole nach Dole schlich fort von den düsteren, bluttriefenden Gestaden des Stroms, der dichten Dschungel zu, stromaufwärts oder -abwärts, wo immer ein Weg zur Flucht sich fand.
»Die Schuld! Die Schuld!« schrie Mogli. »Zahlet die Schuld! Den Einsiedelwolf mordeten sie! Kein Hund darf entkommen!« An den Strand flog er mit dem Messer in der Hand, um jeden Dolen niederzustechen, der zum Wasser wollte. Da erhob sich unter einem aus Toten geschichteten Berge Akela auf die Vorderläufe und reckte den Kopf. Mogli warf sich neben dem Einsiedelwolf auf die Knie.
»Sagte ich nicht, mein letzter Kampf wäre es«, röchelte Akela. »Große Jagd war es – und du, kleiner Bruder?«
»Ich lebe, ich lebe, viele tötete ich.«
»Ich weiß. Ich sterbe und will – will bei dir sterben, kleiner Bruder.« Mogli hob den schrecklich zerfleischten Kopf auf seine Knie und umschlang den zerrissenen Nacken mit den Armen.
»Weit zurück liegen die alten Tage, da Schir Khan lebte und ein Menschenjunges im Staub sich wälzte.«
»Nein, nein, Wolf bin ich – von einer Haut mit dem freien Volk«, rief Mogli. »Nicht mein Wille ist es, Mensch zu sein.«
»Mensch bist du, kleiner Bruder, Wölfling meiner Haut. Mensch bist du, sonst wäre das Pack vor den Dolen geflohen. Mein Leben verdanke ich dir, und heute hast du das Pack gerettet, wie ich dich einst rettete. Weißt du es noch? Alle Schuld ist getilgt. Gehe zu deinem eigenen Volk. Ich sage es dir noch einmal, Licht meiner Augen, zu Ende ging diese Jagd. Gehe zu deinem Volk.«
»Nein, niemals! Allein will ich jagen in der Dschungel. Ich habe gesprochen.«
»Dem Sommer folgen die Regen, den Regen folgt der Frühling. Kehre heim, ehe man dich treibt.«
»Wer wird mich treiben?«
»Mogli wird Mogli treiben. Kehre heim zu deinem Volk. Gehe zu den Menschen.«
»Wenn Mogli Mogli treibt, dann wird Mogli gehen.«
»Nichts mehr bleibt zu sagen«, sprach Akela. »Kleiner Bruder, kannst du mich auf die Läufe heben? Auch ich war Führer des freien Volkes.«
Sorglich und sanft schob Mogli die toten Körper zur Seite, richtete Akela auf und stützte ihn mit den Armen. Tief sog der Einsiedelwolf Luft in die Lungen, dann sang er das Totenlied, das ein Führer des Packs singen muß, wenn er stirbt. Kräftiger und kräftiger hob sich der Gesang, daß er weithin über den Strom schallte. Und als er an das letzte »Gute Jagd« kam, da schüttelte Akela sich von Mogli frei, sprang in die Luft, fiel zurück auf seine letzte und furchtbarste Beute – und war tot.
Gleichgültig hockte Mogli mit dem Kopf auf den Knien.
Die letzten flüchtigen Dolen wurden von den erbarmungslosen Lahinis eingeholt und niedergerissen. Allmählich erstarben die Schreie; die Wölfe kehrten zurück, hinkend, mit starrenden Wunden, und hielten Heerschau über die Toten. Fünfzehn vom Pack und ein halb Dutzend Lahinis lagen tot am Ufer, von den übrigen war nicht einer ohne Wunden.
Mogli rührte sich nicht, bis der kalte Tag anbrach und Phaos feuchte rote Schnauze sich in seine Hand legte. Da rückte Mogli beiseite, um ihm den hageren Leib Akelas zu zeigen.
»Gute Jagd!« grüßte Phao den toten Akela, als ob dieser noch lebte. Dann rief er über die eigene zerfleischte Schulter hinweg: »Heult, Hunde! Ein Wolf starb diese Nacht!«
Aber von dem gesamten Pack der zweihundert kämpfenden Dolen, den Rothunden vom Dekkan, die prahlten, alle Dschungel wären ihre Dschungel und kein lebendes Wesen könnte ihnen standhalten, kehrte nicht einer heim zum Dekkan, um von dem Kampf zu berichten.
Tschils Gesang
Das waren meine Gefährten, zogen aus bei Nacht –
Tschil!