Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard Kipling
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Mogli stand schneller wieder auf den Füßen, als er gefallen war, die weißen Zähne entblößt und das Messer gezückt in der Hand. In diesem Augenblick hätte er beide töten können, grundlos, nur weil sie kämpften, während er sie still haben wollte, obgleich jedem Wolf das Recht zusteht, dem Gesetz gemäß seinen Kampf auszufechten. Geduckt, mit bebender Hand, tanzte er um sie herum, um einen doppelten Schlag zu führen, sobald die erste Hitze des Gefechts sich legte; aber während er lauerte und lauerte, fühlte er seine Kraft entweichen, die Spitze des Messers senkte sich, und langsam schob er es in die Scheide zurück.
»Wahrlich, Gift muß ich geschluckt haben«, seufzte er, »seitdem ich den Rat mit der roten Blume auseinandertrieb, seitdem ich Schir Khan tötete, hat keiner vom Pack mich bezwingen können. Diese da sind nur Schwanzwölfe vom Pack – geringe Jäger! Meine Stärke wich von mir, sterben muß ich. Oh, Mogli, warum tötest du nicht diese zwei?«
Der Kampf ging weiter, bis zuletzt einer der Wölfe davonflüchtete. Mogli blieb allein zurück auf der zerwühlten blutigen Walstatt, sah auf sein Messer, auf seine Beine und Arme, und wieder überflutete ihn ein unerklärliches Gefühl von Gram und Traurigkeit, wie Wasser einen Stein überflutet.
Zeitig an diesem Abend jagte er, aß aber nur wenig, um leichtfüßig zu bleiben für den Frühlingslauf. Einsam verzehrte er seine Beute, denn alles Dschungelvolk war in den Wäldern verstreut, sang oder kämpfte. Es war eine vollkommen weiße Nacht, wie sie es nennen. Seit dem Morgen schienen alle Pflanzen soviel gewachsen zu sein wie sonst in einem Monat. Der Zweig, der gestern noch gelbliche Blätter getragen, tropfte heute von Saft, als Mogli ihn abbrach. Warm und dicht kräuselte sich das Moos um seine Füße, das Gras hatte weiche junge Spitzen, und alle Stimmen in der Dschungel summten und brummten wie tiefer Harfenton, vom Mond angeschlagen, dem Mond der »Neuen Rede«. Voll warf er sein Licht über Fels und Pfuhl, glitt bläulichgelb zwischen Baumstamm und Liane hindurch und stäubte milden Schein über Millionen junger Blätter.
Mogli vergaß seinen Kummer – laut sang er vor Glück, als er seinen Frühlingslauf antrat. Mehr wie ein leichtes Fliegen war es, denn er hatte, um nach den Morästen des Nordens zu gelangen, den breiten, geneigten Hang mitten durch das Herz der Dschungel gewählt, wo der federnde Grund den Schall seiner Tritte dämpfte. Ein unter seinesgleichen aufgewachsener Mensch würde seinen Weg mit großer Mühe, stolpernd und fallend, im irreführenden Mondlicht gesucht haben, aber Moglis geübte und gestählte Muskeln trugen ihn leicht federnd dahin. Rutschte unter seinem Fuß ein verrotteter Klotz oder verborgener Stein, so gewann er leicht und mühelos wieder festen Boden, ohne den Lauf zu verzögern. Ermüdete ihn das Gehen auf der Erde, so streckte er nach Affenart die Arme nach der nächsten Schlingpflanze aus, schien die dünnen Zweige mehr hinauf zu schweben als zu klettern. Dann wurde der Marsch über eine Baumstraße fortgesetzt, bis seine Laune sich wieder änderte und er in langem, rauschendem Bogen abwärtsschoß auf den Boden. Durch stille heiße Schluchten führte sein Weg zwischen feucht dunstenden Felsen, wo der schwere Duft der Nachtblumen und der quellenden Lianenknospen ihm die Brust beklemmte. Durch dunkle Alleen kam er, wo das Mondlicht regelmäßige Streifen und Bogen spann, wie Marmorwerk in einem Kirchenchor; durch Dickichte drang er, wo das nasse dichte Gestrüpp ihm bis zur Brust reichte und sich wie Arme um seine Hüften legte; über Hügelkämme, von zerklüftetem Geröll bedeckt, wo er von Stein zu Stein sprang und die kleinen Füchse aus ihren Schlupfwinkeln aufschreckte. Aus der Ferne vernahm er das »Schugdrug« eines Ebers, der seine Hauer an einem Stamm schärfte; später kam er an dem großen Tier vorüber, das mit feuriglodernden Augen, Schaum vor dem Rachen, die rote Rinde eines Riesenbaumes zerfetzte. Oder das Geräusch von klirrenden Hörnern, Gegrunz und Gezisch führte ihn seitwärts, und er kam an zwei wütenden Sambarhirschen vorbei, die mit gesenkten Köpfen gegeneinanderrannten, und das Blut an ihren Flanken erschien schwarz im Mondlicht. An schilfbedeckter Furt hörte er Tschakala, das Krokodil, gleich einem Ochsen brüllen; oder er störte einen ineinandergeschlungenen Knäuel des Giftvolkes auf, aber war schon über glitzerndes Steingeröll hinweggeglitten, ehe sie beißen konnten, und lief wieder tief in der inneren Dschungel.
So rannte er, jauchzte manchmal oder sang vor sich hin, in dieser Nacht das glücklichste Geschöpf in der ganzen Dschungel, bis der Geruch der Blumen die Nähe der Moräste ankündigte; diese lagen weiter entfernt als seine fernsten Jagdgründe.
Hier wieder wäre ein unter seinesgleichen aufgewachsener Mensch schon nach drei Schritten bis über den Kopf versunken. Moglis Füße jedoch schienen Augen zu haben, denn wohlbehalten trugen sie ihn von Scholle zu Scholle, von einem glitschigen Klumpen zum anderen, ohne seiner Augen im Kopf zu bedürfen. Er drang bis zur Mitte des Moores vor, scheuchte Entenvölker auf und setzte sich auf einen moosbedeckten Baumstamm, der halb im schlammigen Wasser schlappte. Rings um ihn her war Leben in den Mooren; nur leicht ist im Frühling der Schlaf der Vogelvölker, und ganze Züge kamen und gingen durch die Nacht. Unbeachtet blieb Mogli im hohen Ried, summte Gesänge ohne Worte und untersuchte die Sohlen seiner harten braunen Füße nach eingedrungenen Dornen. Alle Schwermut schien er in seiner eigenen fernen Dschungel gelassen zu haben, er war gerade im Begriff, ein neues Lied mit voller Kehle anzustimmen – da überfiel ihn wieder der unerklärliche Gram, zehnmal stärker als zuvor.
Diesmal bekam Mogli Angst: »Hier ist er auch«, sagte er halblaut. »Er ist mir gefolgt.« Und er blickte scheu über seine Schulter rückwärts, um zu sehen, ob dieser »er« etwa hinter ihm stände. »Niemand ist hier.«
Weiter raunten die Nachtgeräusche in den Mooren, aber weder Vogel noch ein anderes Tier sprach zu ihm, und das neue Gramgefühl schien ins unendliche zu wachsen.
»Sicherlich habe ich Gift gegessen«, sagte er, und seine Stimme bebte vor Furcht. »Aus Versehen muß ich es geschluckt haben, denn meine Stärke verläßt mich. Ich habe mich gefürchtet, und doch war ich es nicht, der sich fürchtete« – Mogli hatte Angst gehabt, als die beiden Wölfe miteinander kämpften. »Akela, ja selbst Phao würden sie zur Ruhe gebracht haben, aber Mogli fürchtete sich! Sicherstes Zeichen dafür, daß ich Gift geschluckt habe. Aber was fragen die in der Dschungel danach? Sie singen, heulen und laufen in Rudeln unter dem Mond, und ich – o weh! – muß sterben in den Morästen, an dem Gift, das mir im Leibe sitzt.«
Er tat sich selbst so leid, daß er am liebsten laut geweint hätte.
»Und nachher«, klagte er weiter, »werden sie mich hier finden in dem schwarzen Wasser. Nein, ich will doch lieber heimkehren nach meiner Dschungel, um auf dem Rätefelsen zu sterben. Baghira, den ich liebe – wenn er nicht singend durch das Tal rennt –, Baghira wird vielleicht Totenwacht halten bei meiner Leiche, damit Tschil nicht mit mir tut, wie er mit Akela getan hat.«
Eine dicke warme Träne fiel ihm aufs Knie, und elend, wie Mogli war, fühlte er sich doch wieder glücklich, daß ihm so elend zumute war – wenn euch diese auf den Kopf gestellte Glückseligkeit bekannt ist. »Als Tschil, der Geier, Akela aufzehrte«, wiederholte er, »errettete ich in derselben Nacht das Pack von den roten Hunden.« Er schwieg und dachte eine Weile an die letzten Worte des Einsiedelwolfes, deren ihr euch wohl entsinnt. »Viel Unsinn redete Akela zu mir, bevor er starb, denn wenn wir sterben, dann ändert sich in uns der Wanst. Er sagte... aber dennoch, ich bin von der Dschungel!«
Mogli dachte an die Schlacht am Waingungastrande, und vor Erregung schrie er die letzten Gedanken so laut in die Nacht hinein, daß eine wilde Büffelkuh im Schilf aufsprang und schnaubte: »Ein Mensch!«
»Uuh!«