Fremd- oder Selbstbestimmung?. Frank Föder
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Die moderne Demokratie überdies verlangt Vereinheitlichung. Verschiedenartigkeit kann sie nicht dulden. Vorhandene Ungleichheit kann sie nicht fortbestehen lassen.
Lange Zeit noch gab es Gemeinden, in denen deren Mitglieder selbst bestimmten, was in ihnen zu gelten hatte und was geschehen sollte. Nicht ganz so eindeutig, aber freier als heute, gab es Schulen und Universitäten, deren Leiter und Lehrer sich den Lernwilligen durch eigenständig gewählte Inhalte und Methoden zur Nutznießung anboten. Die Demokratien, angeblich Garanten der Freiheit, können Selbständigkeit nicht dulden. Alles gehört über den gleichen Kamm geschoren. Entmündigung ist ganz offen unvermeidlicher Grundsatz.
Ein monarchistischer Reformer konnte noch fordern: „Das zudringliche Eingreifen der Staatsbehörden in Privat- und Gemeindeangelegenheiten muß aufhören und dessen Stelle nimmt die Tätigkeit des Bürgers ein, der nicht in Formen und Papier lebt, sondern kräftig handelt, weil ihn seine Verhältnisse [ . . . ] zur Teilnahme am Gewirre menschlicher Angelegenheiten nötigen. Man muß bemüht sein, die ganze Masse, der in der Nation vorhandenen Kräfte, auf die Besorgung ihrer Angelegenheiten zu lenken, denn sie ist mit ihrer Lage und ihren Bedürfnissen am besten bekannt.“ (Freiherr vom Stein, „Ausgewählte politische Briefe und Denkschriften“, herausgegeben von E. Botzenhardt und G. Ipsen, Stuttgart, 1955.).
Gewachsene Strukturen und deren Eigenständigkeit widersprechen naturgemäß dem Gleichheitsgrundsatz und dem Gebot der Einheitlichkeit. Überdies stellt die Verwaltung der für alles zuständigen Institution den Anspruch, in etwa gleich große und gleich leistungsfähige Untergliederungen zu haben. Sie erwirkt daher, daß Grenzen neu gezogen werden. Von den auf diese Weise künstlich hergestellten Gebietskörperschaften verspricht sie sich die Überwindung von Eigenbrötelei und Kleinkariertheit.
Die Netto-Steuerquote gibt an, zu welchem Teil die Gemeinden sich selbst finanzieren können und somit unabhängig von staatlichen Zuwendungen sind. Diese Quote betrug in der Bundesrepublik Deutschland 1960 noch etwa 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Städte und inzwischen gebietsreformierten Großgemeinden würdigte der Bund bis 2011 auf etwa vier Prozent des BIP herab.
Die Zerschlagung der gewachsenen Gemeinschaften aber hat ein verbreitetes Gefühl der Ohnmacht zur Folge, zunehmende Gleichgültigkeit, die Aufhebung der Geborgenheit, Entwurzelung, Vermassung.
Die Einrichtung Staat vermittelt seit eh und je die Vorstellung, sie führe Menschen zusammen, die sämtlich das Gleiche dächten und glaubten. Wie will man auch Menschen regieren, die im Grundsätzlichen unterschiedlicher Meinung und moralisch verschiedener Auffassung sind? Wer vom Staat das Heil erwartet, muß auf Vereinheitlichung und Gleichschaltung bestehen. Unter lauter Anders-Denkenden und Anders-Fühlenden kann es einleuchtenderweise Ruhe und Sicherheit im Staat nicht geben.
Die Neigung, allen Menschen im Pferch vorzuschreiben, wie sie zu leben, was sie zu glauben und was sie gutzuheißen haben, wohnt dem Staatssystem unverrückbar inne.
Der Radikalismus von links und von rechts sowie neuerdings der ethische Fundamentalismus sind Erscheinungen, die die Eigentümlichkeiten der modernen Demokratie heraufbeschwören. Keine ist ganz frei davon.
Der Kommunismus brachte das Anliegen der Vereinheitlichung zum Exzeß, noch heute in Nordkorea und China zu besichtigen. Iran und Saudi Arabien bleiben dem religiösen Einheitsdenken verhaftet. Eine Leitkultur ist auch den Deutschen wichtig. Und die USA unter Trump huldigen der Western-Mentalität.
Die Bewegung Islamischer Staat (IS) bringt die Sache auf den Punkt. Wer im Staat anders fühlt und denkt, wird umgebracht. Diese Überspitzung indes haben die Fanatiker keineswegs erfunden. Man kennt sie seit Stalin und Hitler. Und Erdoğan ist sicher nicht der letzte, der sie anpeilt
Hinzu kommt, daß die moderne Demokratie sich zu Ineffektivität verurteilt hat. Die Obrigkeitsverfechter haben ihrem Gebilde mehr aufgehalst, als es zu bewältigen imstande sein kann. Und weil sie daran festhalten, alles von oben regeln zu wollen, schlicht ignorierend, daß es Angelegenheiten gäbe, die besser im Unterbereich oder an Ort und Stelle zu erledigen sind, erzeugen sie Übelstände, die sich zwangsläufig der Beseitigung entziehen.
Viele Widrigkeiten entwachsen allein aus der Modalität der Staatlichkeit. Die bleibenden und fortlaufend neu sich aus ihr entfaltenden Unzuträglichkeiten beherrschen das Regierungshandeln. Die Ministerien haben sich vorwiegend mit Belastungen zu befassen, die allein aus den etatistischen Gegebenheiten herrühren.
Die Hoheit des Gebildes und seine Verantwortlichkeit für alles, was passiert, ruft fortgesetzt neue Probleme wach. Deshalb behält nichts im Staat Bestand. Selbst die Verfassungen haben nur begrenzten Zeitwert. Und jede Entscheidung muß nach kurzer Zeit revidiert werden. Eine Reform jagt die nächste, ohne daß je der Zustand unumwundener Nützlichkeit, Weisheit und Güte zustande käme.
Demokratie erwirkt von ihren Dienern die unentwegte Beschäftigung mit ihr selbst. Sie eliminiert Sicherheit und Geborgenheit. Das hat Folgen, die ihr fortlaufend zu schaffen machen. Aus ihrer Eigenart mithin entwachsen Probleme, die sich einer Lösung entziehen. Und da sich die Self-Made-Komplikationen beständig vermehren, jeweils bedrückend bemerkbar machen, verlangen sie eine ihnen gewidmete unentwegte Geschäftigkeit.
Diese Staatsform ist ein Perpetuum mobile, ein in sich geschlossenes Kreislaufsystem. Jede mühsam erwirkte Lösung, weil sie Konsequenz wie den Teufel meidet, erzeugt im Nachgang neue Probleme. Das Geschehen in der Demokratie dreht sich fortgesetzt um sich selbst, ohne je einen Zustand der Ausgeglichenheit erreichen zu können. Bezeichnenderweise wird das ständige Reformieren von Reformen nicht mehr als ein Defekt angesehen.
Die Machtmonopolstellung der Institution und ihre Verantwortlichkeit für alles liefert die Ursache aller Nöte, die nicht physikalischen Ursprungs sind.
Die Einbindung in die Eigenrotation verstellt den Regierenden den Blick auf das, was für die Bürger wirklich von Bedeutung ist – nicht zu reden von den Bedürfnissen der Menschheit insgesamt.
Weil die Öffentlichkeit auf die Lösung der drückenden Probleme drängt, beschließen die heutigen Regierungen feierlich, daß sie die Beschwernisse in zwanzig oder dreißig Jahren bewältigt haben werden.
Nach außen haben die modernen Demokratien es mit Gebilden zu tun, die in ihrem Inneren in gleicher Weise gebeutelt werden. Die Aktionen der Staaten untereinander sind deshalb unverkennbar von Heillosigkeit geprägt. Alles Bemühen gilt der vorübergehenden Beendigung einer Widrigkeit oder Verstimmung. Auch die Außenpolitik kennt nur die Verdinglichung eines Vorläufigen als Ziel.
Der Staat würde benötigt, heißt es weiter, um Handel und Wandel zu fördern.
Der Markt benötige, um gedeihlich zu verlaufen, zum einen die Stützung durch den Staat, zum anderen die Verhinderung oder Behebung seiner Auswüchse durch ihn. Wie sich das in Wahrheit verhält, wird später ausführlich zu erörtern sein.
In der Geschichte waren die Staaten der Gedeihlichkeit von Handel und Wandel eher hinderlich. Die phönizischen und griechischen Handelsleute wichen bewußt staatlichen Strukturen aus. Den Weg nach China hat nicht Dschingis Khan geöffnet. Die Seidenstraße gab es schon in vorchristlicher Zeit. Die Hanse überdies mußte sich nicht nur der Seeräuber, auch der Begehrlichkeit der Könige erwehren. Freie Bauern heute verlieren Haus und Hof, weil die Staaten, selbstsüchtig, korruptiv, der Agrarindustrie ihr Ackerland in den Rachen schieben. Der Vorsitzende eines großen Auto-Konzerns verkündete jüngst flapsig: „Schweden braucht Volvo. Aber Volvo braucht Schweden nicht“.
Das Erfordernis, für seine Wohlfahrt zu sorgen, überließen die Kaiser und Könige des Mittelalters dem Bürger selbst.