Am anderen Ende der Sehnsucht. Stefan G Rohr

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Am anderen Ende der Sehnsucht - Stefan G Rohr

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Antwort täuschte aber über etwas hinweg, das Leon selbst zwar nicht in ganzer Tiefe so empfand, es ihm dennoch ansatzweise im Gemüt saß. Die Art und Weise zu fragen, der Sprachgebrauch, auch die spürbare Neugier, welche sicher nicht ausgeprägt daher kam, dennoch unterschwellig mitschwang, war irgendwie nicht nach seinem Geschmack. Dazu fühlte er sich, obwohl auch hierzu kein evidenter Ansatz bestand, beobachtet und auf dem Prüfstand sitzend.

      Herr Schilling strich sich nachdenklich mit einer Hand durch sein längeres graues Haar, welches er offensichtlich gern nach hinten gebürstet trug, es auf diese Weise vermochte, den Ausdruck eines gelehrten Mannes zu unterstreichen. Seine blauen Augen zeugten von großer Leidenschaft und blitzten fast neckisch unter den dicken und ebenfalls ergrauten Brauen hervor. Seine runde, in Silber gefasste Brille sorgte für die Komplettierung des Eindruckes, dass der nun vor einem Sitzende gewiss jemand sein würde, dessen Studien und die Wissenschaft ihn zum Gelehrten gemacht haben werden. Er war mit einer braunen, leicht ausgebeulten Cordhose, einem sauberen Hemd, über dem er eine wollene Weste trug, die sorgsam von unten bis oben zugeknöpft war, bekleidet, und Leon fielen die Manschettenknöpfe auf, die Herr Schilling sich angelegt hatte. Es waren zwei Geschmeide, die jeweils einen großen geschliffenen Rubin inmitten schweren Goldes aufwiesen.

      Der Alte schmunzelte. „Ja, mein lieber Junge, es wird Ihnen gewiss nicht an schönen Impressionen mangeln. Und ich meine dabei nicht nur die herrlichen Weinberge, den so wunderbaren Fluss, auch nicht die Architektur oder die vorzüglichen Weine, die wir hier kredenzt bekommen.“ Er blickte mit einer liebevollen Listigkeit auf sein Gegenüber. „Und nicht alles, was zu uns zu stören geeignet erscheint, ist gleichsam zu umgehen. Mitunter ist es erst die Konfrontation, die Klarheit schafft, und das Ausweichen eine solche nur ungesund verzögert.“

      Der Alte machte eine nachdenkliche Pause, nicht aber ohne sein Gegenüber aus dem Blick zu nehmen. „Natürlich ist man geneigt, sich von Unbequemen frei zu halten, lieber den reizvollen Augenfälligkeiten zu widmen. Besonders geeignet erscheint dabei die Anmut und Schönheit der hiesigen Damenwelt, und wachen Auges kommt man nicht umhin, diese recht schnell auch zu bemerken. Wie ich vernommen habe, ist Ihnen das ja bereits schon gleich am ersten Tag trefflich gelungen.“

      Leon war sichtlich beeindruckt, und der Anflug seines vorangegangenen Eindrucks verstärkte sich soeben. Wie in Gottes Namen war es seinem Nachbarn zur Kenntnis gelangt, dass er Isabella in ihrem Lädchen kennengelernt hat? Zudem ging es diesen alten Herrn doch auch wirklich nichts an. Aber nun Ausflüchte zu suchen, etwa leugnen oder beschwichtigen zu wollen, schien ihm nicht nutzbringend. Dazu war die Lage zu klar: Herr Schilling, der Professor, schien Fakten zu kennen, warum und wieso auch immer.

      Das Schweigen von Leon bemerkte sein Gegenüber sogleich. Und er lachte seinen jungen Nachbarn fröhlich an: „Touchez?!“ Und nach einer minimalen rhetorischen Pause fügte er hinzu: „Nun machen sie sich mal nichts daraus, lieber Herr Renatus. Erkennen Sie lediglich, wie klein und überschaubar dieses Städtchen sich darstellt. Geheimnisse haben hier nur eine sehr kurze Halbwertszeit. Und jeder, der einen kleinen Stadtbummel nach einem guten Mittagsmahl von Frau Theissen zur Förderung seiner Verdauung unternimmt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch einen Blick in die weniger belebten Gassen wagen. Und als ich dieses heute tat, sah ich einen jungen Herrn, beim Genuss eines sicher vorzüglichen Rieslings, in freundschaftlicher Geste mit einer jungen Dame, die ihm ganz unübersehbar die Röte ins Gesicht steigen ließ. Und Chapeau, junger Freund! Guten Geschmack kann man nicht lernen, er liegt einem im Blut.“

      Leon hatte erneut einen roten Kopf bekommen, diesmal jedoch war es allein die Scham, denn er fühlte sich ertappt und das vollkommen zu Unrecht. So überlegte er fast schon ein wenig krampfhaft, wie er nun zu antworten hätte, um den völlig falschen Eindruck zu korrigieren. Doch sollte er gar nicht mehr dazu kommen, denn mit einem Mal waren weitere Menschen getreten, die restlichen Gäste, für die die Tafel schließlich ja auch gedeckt war. Und so war es jetzt viel eher angebracht, dass sie sich gegenseitig alle vorstellten, soweit es zumindest Leon anging, denn er war der Einzige, der neu in der Runde zugegen war.

      Da war zunächst Johann Richter, ein reisender Vertreter eines großen Weinhandels, dessen hervorstechendsten Merkmale zunächst sein ungeheuer dicker Bauch, sodann seine glänzende Glatze waren. Untersetzt, die Hosen ein wenig zu kurz, hing sein Bauch ein gutes Stück über den Hosengürtel und folgte damit ganz unübersehbar den Kräften der Gravitation. Er war um die sechzig Jahre alt, sein Blick listig und seine Nasenspitze zeigte eine Rötung, die mit großer Sicherheit nicht auf die junge Maisonne zurück zu führen war. Einher ging mit der gegenseitigen Vorstellung für ihn als Verkaufsgetriebener das obligatorische Überreichen seiner Visitenkarte. Man konnte schließlich nie wissen, ob das Gegenüber nicht irgendwann einmal ein lukrativer Kunde werden könnte. ´Weinhaus und Großhandel Eduard Knittlich´ war auf dem Kärtchen mit goldener Prägung zu lesen, darunter der Hinweis `150 Jahre Tradition und Expertise´. Johann Richter war nach eigenem Bekunden nun für einige Tage vor Ort, um Geschäften nachzugehen.

      Der zweite Herr, dessen hagere Statue, gepaart mit einer ungewöhnlichen Größe, so ausgeprägt war, dass zu vermuten stand, seine Anzüge wären nur durch Maßarbeit zu erstehen, jeder der üblichen Herrenausstatter an ihm ein berufliches Waterloo erfahren müsste, hieß Hermann Göhring. Diesem Umstand war es denn wohl auch geschuldet, dass er bei seiner Vorstellung unmittelbar folgen ließ: „… mit `H´, Göhring mit `H´, bitte sehr.“ Und Leon schoss es sofort durch den Kopf, ihn sogleich fragen zu wollen, ob er es denn schon einmal überlegt haben würde, sich amtlich umtaufen zu lassen, denn es müsste schon eine Last bedeuten, mit diesem Namen durchs Leben zu laufen. Er verkniff es sich jedoch, und so vernahm er von Herrn Göhring, dass dieser für einige Tage in der Gegend sei, um Fledermäuse zu beobachten. In den schroffen Schieferfelsen der Region würden verschiedene und zudem auch seltene Populationen dieser Spezies leben, die er als Hobbyforscher und Privatgelehrter gerne beobachten wollte.

      Der dritte Gast war eine Dame, zudem von adligem Geschlecht. Sie bestand ganz offensichtlich auf die Anrede `Fräulein´, was angesichts ihres fortgeschrittenen Alters von etwa fünfundsechzig Jahren ein wenig grotesk anheimelte. Mächthild Freifrau von Remberg war ihr Name, wie gesagt, mit einem vorangestellt und deutlich betontem ´Fräulein´. Der Grund für ihr Zugegensein war ein Kindheitswunsch, wie sie es nannte. Sie buchte nun täglich verschiedentliche Schiffstouren mit der weißen Flotte, flussauf- und flussabwärts, mehrfach hin und her, mit immer neuen Ausstiegsstationen in den vielen kleinen Weinorten entlang des großen Flusses. Was in ihrer Kindheit schief gelaufen war, damit ein solches Unterfangen in die Traumwelt eines Kindes geraten konnte, behielt sie jedoch für sich, und niemand wird es wohl jemals ergründen. Die Frage nach einer Begleitung erübrigte sich bei ihr, und ohnehin erschien sie eher wortkarg und wenig kommunikativ. Sie saß vielmehr mit gefalteten Händen am Tisch und es wäre wohl niemand verwundert gewesen, wenn sie ein Gebet gesprochen hätte.

      Der noch freie Platz war natürlich für Frau Theissen selbst. Denn es war für sie eine Selbstverständlichkeit, die Produkte ihrer Kochkunst nicht nur selbst zu verzehren, sondern vor allem mit ihren Gästen gemeinsam zu dinieren. In der Rolle des servierenden Personals sah sie sich mitnichten. Als Dame des Hauses dagegen ganz sicher. Und dass es zu dieser Zeit, sowie schon längerer Zeit davor, keine Köchin und auch keinen Hausdiener mehr gab, hatte ihr Selbstverständnis in keiner Weise beeinträchtigt. Die Zeiten haben sich geändert. Das war aber auch alles.

      Das also waren nun die aktuellen Gäste und Mitbewohner von Leon. Neben der Dame des Hauses ein Professor, dessen fakultative Zuordnung Leon derzeit noch im Verborgenen lag, einem schnapsnasigen Reisenden in Sachen Wein, einem Fledermausforscher und einer alten Adelsjungfer mit wohlmöglich traumatisierter Kindheit. Erwartungen an ein lebendiges Abendprogramm konnte er somit wohl begraben, und selbst, als Frau Theissen einen ungemein süffigen Riesling offerierte, vermochte Leon nicht umhin zu kommen, sich insgeheim ein wenig zu ärgern, dass er Isabella nicht einfach gefragt haben würde, ob sie an diesem Abend doch mit ihm zum Essen gehen würde.

      Конец

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