Rätselhaftes Vietnam - Hintergrundwissen für Touristen und andere. Helga Ostendorf

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Rätselhaftes Vietnam - Hintergrundwissen für Touristen und andere - Helga Ostendorf

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besonders hässliche Seite Vietnams ist die Korruption, die offenbar keine moralischen Schranken kennt. Darüber, wer arm ist, entscheiden lokale Behörden oft willkürlich (London 2006, 15). Nur jede_r Zweite der extrem Armen erhält soziale Leistungen, aber jede_r achte der Bezieher_innen hat ein Durchschnittsgehalt oder mehr und hätte somit gar keinen Anspruch (World Bank 2012, 88). Korruption, und sei es in Form von „Beziehungen“, wird in Vietnam auch seitens der Regierung heftig kritisiert. Dennoch existiert sie überall – und zwar auch zulasten der extrem Armen.

      Das Fazit aus diesem Kapitel ist: Preise herunterzuhandeln gehört in Vietnam dazu und betrügen lassen sollte man sich auch als „reiche_r“ Tourist_in nicht. Aber Menschen, die pro Tag nur gut 2 US$ zum Leben haben, kann man mit sehr wenig Geld glücklich machen. Gerne und gleichzeitig beschämt denke ich an die Straßenverkäuferin, der ich zwei Tage vor der Abreise zwei Stangen Zigaretten abkaufte. Sie war überglücklich und bestand darauf, mir ein Feuerzeug zu schenken. Als ich am nächsten Tag noch einmal zwei Stangen kaufte, standen ihr Tränen in den Augen.

      3. Ein gewaltiger Sprung vorwärts

      Bildung

      Hinsichtlich des Bildungsstandes der Bevölkerung hat Vietnam ebenfalls einen großen Schritt nach vorn gemacht. Gleichwohl gibt es Ungleichgewichte zwischen Jung und Alt, sozialen Schichten und beruflicher und hochschulischer Bildung. Auch die Korruption spielt im Bildungswesen eine erhebliche Rolle. Und nicht zuletzt werden auch die Richtungsstreitigkeiten zwischen den Traditionalisten_innen und den Modernisierer_innen besonders deutlich.

      Während nach dem Zweiten Weltkrieg die meisten Vietnamesen_innen noch Analphabeten waren, macht heute mehr als die Hälfte der vietnamesischen Jugendlichen das Abitur. Die Leistungen der vietnamesischen Schüler_innen können sich ebenfalls sehen lassen. 2012 hat Vietnam erstmals an den PISA-Vergleichsstudien teilgenommen und erreichte in Mathematik mit 511 Punkten gleich hinter Deutschland (514 Punkte) Platz 17 unter 65 Ländern (Schweiz: 531 Punkte, Österreich 506 Punkte). Der Economist (12.12. 2013) kommentierte, dieses Ergebnis sei für Bildungspolitiker_innen westlicher Hauptstädte wohl „ein wenig demütigend“.

      Bildung hat sowohl bei vietnamesischen Eltern als auch bei der Regierung einen sehr hohen Stellenwert. Selbst einkommensarme Eltern versuchen, ihren Kindern das Abitur zu ermöglichen: Jedes dritte Kind aus Familien, die täglich höchstens 2,24 US$ pro Familienmitglied zur Verfügung haben, besucht ein Gymnasium. Dabei bekommt nur die Hälfte dieser Kinder ein staatliches Stipendium und nur ebenso viele erhalten eine Reduzierung der Schulgebühren oder sind davon befreit.[3]

      Vietnam verwendet mit 15% seines Bruttoinlandsprodukts mehr als das Doppelte für Bildung als Deutschland. Im Fokus steht dabei auch die berufliche Bildung, wo Vietnam einen hohen Nachholbedarf hat und die eine Voraussetzung für die weitere Industrialisierung des Landes ist. Doch zwischen Stadt und Land gibt es auch in der Bildung nach wie vor ein großes Gefälle und ebenso zwischen der armen und der wohlhabenden Bevölkerung. Darüber hinaus ist unter den Älteren die Zahl der Analphabeten nach wie vor hoch.

      Ältere Straßenhändler_innen zeigen einem häufig einen Geldschein, wenn es um die Frage geht, was das Gewünschte kostet. Da sie nie lesen, schreiben und rechnen gelernt haben, können sie die Zahl nicht benennen – und auf Englisch schon gar nicht. Auch ist es uns in einer ländlichen Region begegnet, dass eine Verkäuferin auf die Frage nach dem Preis für vier Dosen Cola lange rechnete und schließlich viel zu wenig verlangte. Das verwundert nicht, hat doch von den Älteren (2010: 61+) nur jede_r Zweite die Grundschule besucht und nur jede_r Vierte die Sekundarstufe I. An einem anderen Verkaufsstand ganz in der Nähe bediente uns ein 14-jähriges Mädchen (es waren Schulferien). Ihr Englisch war hervorragend und korrekt zusammenzählen konnte sie selbstverständlich auch.

Literaturtempel

      Literaturtempel in Hanoi

      Historisch waren die Bildungsangebote vorrangig den zukünftigen Mitarbeitern des Königs, den „Mandarins“, vorbehalten. An diesem elitären Bildungssystem änderten die französischen Besatzungskräfte wenig. Schließlich war es nicht ihr Ziel, das Land zu entwickeln, sondern es auszubeuten. Während der französischen Besatzung sollen die Bildungsmöglichkeiten sogar vermindert worden sein (Mensel 2012, 135). 1939 wechselten nur 2% der Grundschulkinder in eine weiterführende Schule. Auch den spätestens seit 1965 im Süden faktisch herrschenden USA ging es nicht um die Entwicklung des Landes, sondern ausschließlich um die Abwehr der politischen Einflüsse Chinas und der Sowjetunion. Für das ab 1954 in Nordvietnam herrschende kommunistische Regime dagegen hatte die Schulbildung der Kinder von Beginn an einen hohen Stellenwert. Es setzte erhebliche Mittel ein und 1957 war die Zahl der Grundschüler_innen im Norden bereits dreimal so hoch wie zwanzig Jahre vorher in Gesamtvietnam.

      Jonathan D. London (2006, 5) unterscheidet drei Phasen der Schulentwicklung in (Nord-)Vietnam: erstens eine rapide Expansion in den 1950er und 1960er Jahren, zweitens ein geringes Wachstum in den 1970er Jahren und drittens Stagnation und Krise in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Wie erwähnt, hat es in jüngeren Jahren wieder einen deutlichen Schub vorwärts gegeben. Dennoch wurden in den Krisenjahren Strukturen geschaffen, die sich noch heute ungünstig auswirken.

      Das Ziel der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV) war ein Bürgerrecht auf eine zwölfjährige Schulbildung. Dieses Ziel wurde auch in den Kriegsjahren unbeirrt weiter verfolgt. In den wirtschaftlichen Krisenjahren Ende der 1980er Jahre jedoch war es nicht mehr aufrecht zu erhalten. Finanziert wurden die Schulen anteilig durch den Zentralstaat und die volkseigenen örtlichen Betriebe, die nunmehr schlicht kein Geld mehr hatten. Aus dieser Not heraus entstand die Idee, die Eltern heranzuziehen. Auf einer eigens einberufenen Sondersitzung beschloss die Nationalversammlung 1989 eine Verfassungsänderung und ließ die Erhebung von Schulgebühren zu. Diese sind seither stetig gestiegen. Jonathan D. London (2006, 12) schätzte sie Mitte der Nuller Jahre bereits auf 50% der Ausgaben für Schulen insgesamt. So berichtet Volker Breck (2012) von 370 Euro pro Halbjahr für den Besuch der Grundschule – ein halber Monatslohn eines Fabrikarbeiters. Eine andere Quelle (VietNamNews 29.8.2012) berichtet Ähnliches: 48 US$ für die Grundschule und 144 US$ für das Gymnasium monatlich. Hinzu kommen Elternbeiträge für die Instandhaltung der Schulen. Seit 1993 gibt es neben den öffentlichen auch private und halbprivate Schulen. Dort sind die Schulgebühren noch erheblich höher. Die Einführung der Schulgebühren führte unmittelbar dazu, dass viele Kinder den Schulbesuch abbrechen mussten. Erst Mitte der 1990er Jahre war der Anteil der Kinder, die eine Schule besuchten, wieder auf dem Stand von 1985. Viele, die damals ohne Schulabschluss blieben, stehen heute mitten im Berufsleben.

      In der jüngeren Generation aber steigt das Bildungsniveau rasant. 2010 bereits hatten von den 15- bis 24-Jährigen nicht nur fast alle einen Abschluss der Grundschule, sondern der weit überwiegende Teil auch der Sekundarstufe I (9. Klasse). Lediglich 4% blieben ohne Grundschulabschluss. Dabei ist zu berücksichtigen, dass als Spätfolge der Agent-Orange-Bomben, die die USA eingesetzt haben, noch heute viele schwerbehinderte Kinder geboren werden. Mehr als jedes vierte Kind, das die Grundschule nicht besucht, ist krank oder schwerbehindert (ILO 2014, 12). Eine wesentliche Rolle aber spielt auch das Einkommen der Eltern. Immer noch werden Kinder nicht zur Schule geschickt, weil die Eltern die Gebühren, Schulbücher und -uniformen nicht bezahlen können.[4] Diese soziale Schieflage zeigt sich auch in späteren Schulstufen: 72% der Kinder aus armen Elternhäusern aber 88% der Kinder aus Elternhäusern, die zum reichsten[5] Fünftel der Bevölkerung zählen, besuchen die Sekundarstufe I, wobei Privatschulen anscheinend nicht mitgezählt wurden. Die gymnasiale Oberstufe besuchen dieser Quelle zu Folge nur ein Drittel des ärmsten, aber 81% des reichsten Fünftels (World Bank 2012, 76).

      Verschärft wird der ungleiche Bildungszugang noch dadurch, dass privat zu zahlende Nachhilfestunden üblich sind. Bereits in der Grundschule hat fast ein Drittel der Kinder Nachhilfeunterricht;

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