Rätselhaftes Vietnam - Hintergrundwissen für Touristen und andere. Helga Ostendorf
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Abzulesen sind die Auswirkungen z.B. an Testergebnissen im Fach Mathematik: Kinder aus armen Elternhäusern, die vor der Einschulung beste Ergebnisse haben, rutschen bis zum Alter von acht Jahren dermaßen ab, dass sie schlechtere Ergebnisse haben als die ehedem leistungsschwachen Kinder der Reichen. Ihr Niveau entspricht jetzt dem bei der Einschulung schwacher Kinder aus armen Familien (Worldbank 2012, 167).
Doch selbst wenn das Abitur geschafft ist, wird es für etliche Jugendliche schwierig:
80% der 57%, die das Abitur erreichen, möchten studieren,
60% bestehen das zentral durchgeführte Eingangsexamen und
17% erhalten einen Studienplatz.
Viele gehen ins Ausland, z.B. nach Japan, Australien oder Südkorea. Auch in Deutschland hat sich die Zahl der vietnamesischen Studierenden im letzten Jahrzehnt auf heute über 4 ½ Tausend mehr als verdreifacht. Leisten können sich ein Auslandsstudium natürlich nur diejenigen mit einkommensstarken Eltern. Eine Berufsausbildung als Alternative lehnen viele ab. Vietnamesen_innen „boykottieren“ die berufliche Bildung, heißt es in den VietNamNews (3.3.2014).
Während es gegenwärtig eine größere Zahl an arbeitslosen Abiturienten_innen und auch an Hochschulabsolventen_innen gibt, mangelt es an Facharbeitern_innen und Fachangestellten. Nur 13% der 25- bis 55-Jährigen verfügen über eine Berufsausbildung – gegenüber 60-70% in Westeuropa (World Bank 2011, 10). Auch wenn man bedenkt, dass nach und nach die Ungelernten in Rente gehen und Gelernte nachrücken, ist der Aufholbedarf immens.
Zwar gibt es in Vietnam ein Berufsfachschulsystem, wo Jugendliche in drei bis vier Jahren einen Beruf erlernen können, doch möglicherweise ist der Ruf der beruflichen Bildung auch deshalb miserabel, weil es an Lernmitteln und qualifizierten Lehrkräften fehlt. Das 2008 eröffnete Berufsschulzentrum in Hau Giang (Provinz Vi Thy Districts) wurde mit Lernmitteln in Höhe von 1.245 US$ pro Platz ausgestattet (insg. 809.500 US$). Ausgebildet werden dort Reparateure_innen für Computer, „motorbikes“ und Industrienähmaschinen. Rechnet man Werkbänke, Werkzeug und das Übungsmaterial zusammen, wäre sicherlich ein Vielfaches nötig. Das 2012 gebaute Berufsschulzentrum in Ca Mau (U Minh District), an dem in acht Berufen ausgebildet wird, wurde sogar mit nur 57.500 US$ an Lernmitteln versehen (VietNamNews 3.3.2014).
Neben einer verbesserten Ausstattung scheint auch eine grundlegende Reform überfällig. So fordern Mitglieder des Ständigen Ausschusses der Nationalversammlung, dass die berufliche Bildung enger mit den Marktanforderungen verknüpft werden müsse; den Schulen müsse „erlaubt“(!) werden, verstärkt mit Betrieben zusammenzuarbeiten (VietNamNews 16.4.2014). Das klingt ein wenig nach einer Einführung des deutschen dualen Systems. Dies wäre jedoch eine Überinterpretation. Vielmehr existieren in Vietnam unterschiedliche Formen beruflicher Bildung nebeneinander, die häufig aus den Nachbarländern übernommen wurden. Aber nicht zuletzt drängen auch deutsche Firmen, die in Vietnam tätig sind, auf Reformen und führen in Absprache mit der Regierung Pilotprojekte durch. U.a. bildet die Robert Bosch AG seit 2013 Industriemechaniker_innen nach den Standards deutscher Industrie- und Handelskammern aus. Der theoretische Teil der Ausbildung findet in einem (Vorzeige-)College statt, das von der deutschen Bundesregierung parallel mit 20 Mio. US$ ausgestattet wurde (Hundt 2013). Welch ein Unterschied zur Höhe der Investitionen, die Vietnam an anderen Berufsbildungsinstituten vornimmt oder vornehmen kann!
Nicht immer aber tragen Einflüsse aus dem Ausland auch zu Verbesserungen bei. Im Zuge des Beitritts zur Welthandelsorganisation wurden private Universitäten zugelassen. Dabei scheint einiger Wildwuchs entstanden zu sein. So hat das Erziehungsministerium angekündigt, die Englischkenntnisse derjenigen überprüfen zu wollen, die dort Englisch unterrichten oder Lehrveranstaltungen in englischer Sprache abhalten (VietNamNews 8.8.2014). Mittlerweile wird die Zulassung privater Universitäten an Qualitätskriterien geknüpft.
Generell ist die Qualifikation des Lehrpersonals eher gering. An den vietnamesischen Hochschulen sind nur 10% des Lehrpersonals promoviert, 40% verfügen über ein Master-Examen und 50% über „andere“ Universitäts- und Collegeabschlüsse (World Bank 2013, 28). Eine Ursache ist sicherlich, dass die Zahl der heute über 40-Jährigen, die überhaupt eine Universität besucht haben, sehr niedrig ist. Noch niedriger ist entsprechend die Zahl der Promovierten. Der Prozentsatz derjenigen, die ein „second book“ geschrieben haben und im internationalen Maßstab als professorabel gelten, dürfte gegen Null tendieren.[6] D.h., Vietnam muss mit unterqualifiziertem Lehrpersonal – das gilt auch für die Lehrkräfte an allgemein bildenden und beruflichen Schulen – den Sprung von einem Entwicklungsland in eine Industrienation bewerkstelligen.
Im Bereich der Bildungspolitik wird nicht nur deutlich, was es heißt, ohne Geld und qualifiziertem Personal moderne Einrichtungen schaffen zu müssen, sondern hinter den Kulissen werden auch Richtungsstreitigkeiten zwischen den Verfechtern des althergebrachten, streng hierarchischen Realsozialismus und Reformer_innen deutlich. Z.B. verbot das Ministerium 2014 den Englisch-Unterricht in Kindergärten. Die Qualifikation der Lehrkräfte und die Ausstattung mit Räumen und Unterrichtsmaterial seien unzureichend. Das Verbot musste nach Protesten zurückgenommen werden (VietNamNews 26.2.2014), schließlich wollen auch die Kader der Partei, dass ihre Kinder möglichst früh Englisch lernen. Im Zusammenhang mit den anstehenden Schulbuchreformen wurde das Erziehungsministerium – in der parteikontrollierten(!) Presse – als selbstbezogen, der Vergangenheit angehörend und als „Meister der Selbstgefälligkeit“ bezeichnet (VietNamNews 16.4.2014). Das Ministerium hatte darauf beharrt, die – bisher für ganz Vietnam verbindlichen – Schulbücher selbst zu überarbeiten, während u.a. die Vorsitzende des Sozialausschusses der Nationalversammlung vorschlug, private Schulbuchverlage zuzulassen und nur noch die Qualität der Bücher zu überprüfen. Dies käme einer Umdrehung der Machtverhältnisse gleich. Das Ministerium müsste sich rechtfertigen, wenn es Bücher ablehnt.
Festhalten lässt sich, dass Vietnam über ein großes Potenzial junger Menschen mit hervorragenden Schulabschlüssen verfügt, die berufliche Bildung aber nachhinkt. Gelänge es, eine größere Zahl von SEK-I-Absolventen_innen und auch von Abiturenten_innen für eine Berufsausbildung zu interessieren, könnte „made in Vietnam“ sicherlich bald denselben Ruf wie „made in Germany“ haben, womit auch die Einkommen erheblich steigen könnten. Voraussetzung wäre allerdings, dass die Qualität der beruflichen Ausbildung deutlich angehoben wird.
Irritierend bleibt, dass in der Sozialistischen Republik Vietnam die Bildungschancen der Kinder vom Einkommen der Eltern abhängig sind und dass in einem sich „sozialistisch“ nennenden Land Schulgebühren erhoben werden. Im Erziehungswesen – so Jonathan D. London (2006, 7) – zeigt sich besonders deutlich die eigentümliche und manchmal widersprüchliche Mischung von Prinzipien, die das heutige Vietnam prägen: den leninistischen, wonach die kommunistische Partei als intellektuelle „Vorhut der Arbeiterklasse“ bestimmt, was geschehen soll, und den neoliberalen,