Leute konnten sich solch eine Auftragsarbeit leisten. Leo Putz war noch kein ganz berühmter Maler, aber er studierte an der renommierten Münchener Kunstakademie und hatte einen günstigen Preis vorgeschlagen. Da hatten die Eltern zugestimmt. Anfangs wollte die Mutter mitkommen, schließlich fuhr ein sittsames Mädchen nicht allein zu einem unbekannten Herrn, schon gar nicht zu einem Künstler und nicht im Jahre 1906, trotz allem Fortschritt! Leo Putz war immer wieder vorstellig geworden, hatte die Damen charmiert, dem Vater die Vorteile gepriesen. Leo Putz hatte schon damals vor, zwei Varianten eines Bildes zu malen: einmal hochgeschlossen als Bild für den Salon, und einmal als Akt – ein Werk, von dem die Eltern natürlich nichts wissen durften. Cara wurde dieses Mal vom Hausmädchen Kreszentia begleitet. Leo war nicht sonderlich überrascht, aber begeistert war er nicht: Da jedoch dieses Problem nicht wirklich unerwartet kam, hatte er sich schon im Voraus eine Lösung ausgedacht. Er hatte ohnehin nicht erwartet, dass er mit dem Akt beginnen könnte, dazu musste er mit Fingerspitzengefühl Cara Sophia überzeugen. Das würde mehrere Sitzungen in Anspruch nehmen. Kreszentia war ein großes, bäuerliches Mädchen von vielleicht achtzehn Jahren mit einem flächigen, gutmütigen Gesicht, in dem Sommersprossen frech aufblitzten. Blaue Augen, gerade Nase, großer Mund. Sie trug einen breiten, blonden Zopf, der in Manier der Dienstboten als Kranz um den Kopf geschlungen festgesteckt war. Sie hatte was Frisches, Warmes, er musste unwillkürlich an Kälbchen denken. Sie hatte ohne Zweifel ihr Festtagsgewand angezogen für diesen besonderen Anlass, eine Fahrt in die Stadt. Breite, runde Hüften in karierten Dirndlstoff, die im Takt der Schritte nun die Treppen hinaufwogten, ein üppiger Busen unter einem roten Dreieckstuch mit Fransen, passend dazu die Schürze. Auch die Fransen wippten im Takt der Schritte. Davor rauschte Cara Sophia im Seidenkleid die Treppe hoch. Sein enger Malerfreund Walter Püttner wohnte quasi um die Ecke, und der würde sich der Zenzi gerne annehmen wollen, da war sich Leo sicher. So kam es, dass Zenzi mit ganz anderen Dingen beschäftigt war in den nächsten Wochen und Monaten, als die Eltern von Cara-Sophia dachten. Leo Putz hatte nach etlichen Terminen Cara überzeugt, und nun arrangierte er seine Vorstellung, seine Komposition. Cara solle ihm den Kopf zugewandt halten, über die nackte, rosige Schulter blicken. Dieser Blick aus graugrünen Augen faszinierte ihn. Leo war ein Meister des Details, des Lichts! Die feinen Nuancen, wie Licht auf unterschiedlichen Oberflächen reflektiert wird, das reizte ihn. Die Feinheit von Haut, die verschiedene Reflektion aufgrund verschiedener Stoffe und deren Glanzgrade, der Faltenwurf, das Lichtspiel darauf - all das eine malerische Herausforderung. Das lose, herabgesunkene seidene Oberteil ihres Kleides, dessen Stoff sich um die schmale Taille bauschte, in einem glänzenden, den Schimmer des seidigen Materials wiedergebendem Blau. Er wählt ein nachtblau für die Tiefen des Faltenwurfes, das überging in ein royalblau für die Flächen und gipfelte in ein strahlendes Weiß, wo der Schimmer des Lichtes, die weichen Verformungen der Falten in der Seide nachzeichnete. Er ließ die weiße Spitze des Hemdchens dort blitzen, wo dieses strahlende Blau auf die Spitze traf, dieses kräftige Blau ließ den hellen, rosigen Teint der Haut noch zarter erscheinen. Er mischte die feinen Töne der Haut und ließ einen kleinen Bauch sich sanft wölben, lies langgliedrige, schlanke Hände eine knospende Brust bedecken. Bewusst inszenierte er eine kleine Goldkette mit einem blauen Stein als Anhänger, schmückte damit einen edlen, langen Hals und ließ dank dem Kontrast des Blaus im Stein die Haut besonders rosig erscheinen. Ihr offenes, junges, ebenmäßiges Gesicht mit den geschwungenen schwarzen Bögen der Augenbrauen war umgeben von einer fülligen Lockenpracht in kastanienbraun, hochgesteckt in einen kleinen Dutt, der gehalten wurde von einer Perlmuttspange, die durchschimmerte und oben auf dem Kopf thronte, während weich und rund die Fülle der Haare bogenförmig die Kontur des Kopfes umspielten. Das Gesicht faszinierte Leo Putz, vielmehr der Ausdruck des Gesichts. Sie war jung, sie hatte etwas Faszinierendes. Eine prägnante Nase, ein Kinn, beides nicht zu groß, einen klaren, unerschrockenen Blick, hohe Wangenknochen, kleine Ohren, die ohne Schmuck waren. Die zierte er mit kleinen Perlenohrringen.Leo Putz setzte einen malerischen Kunstkniff ein: Er malte ihren Blick so, dass sie scheinbar immer den Betrachter ansah, unabhängig davon, wo sich dieser im Raum befand. Die einfache Erklärung war, dass man die Augen der dargestellten Person genau geradeaus schauen ließ. Die Halbnackte und doch Bedeckte blickte den Betrachter an, und der Blick folgte scheinbar dem Betrachter - eine kokette Aufforderung? Dieser Blick war eine bewusste, kleine Provokation. Sittsame Frauen oder tugendhafte Mädchen senkten den Blick, schlugen die Augen nieder, sahen niemals jemanden direkt ins Gesicht, denn das galt als unschicklich. Der Blick der Jugend offen, unbefangen, neugierig auf die Zukunft. Nach vielen Sitzungen war das Gemälde fertig. Leo Putz war zufrieden. Er würde es aufwändig rahmen lassen. Auf der Rückseite signiertes er es: Cara Sophia Höller im Atelier 8.8.1906, Leo Putz. Im Nachgang löste dieses Gemälde einen Skandal aus. Das erste Portrait hatten die Eltern abgenommen, sie ahnten lange nichts vom zweiten Bild, bis Zenzi sich verplapperte. Nach einigen Händeln mit den aufgebrachten Eltern, versprach Leo Putz, das Gemälde zu behalten, es nicht auszustellen und es nicht zu veräußern für mindestens zwanzig Jahre.Leo Putz wanderte nach Südamerika aus, wo er eine Professur annahm. Erst 1935 kehrte er nach München zurück und baute ein Haus in Gauting. Sein neues Atelier lag in München, und so wanderten all die eingelagerten Gegenstände erst einmal ins neue Atelier. Dort empfingen Leo Putz und seine Frau einen Herrn, der das Haus bauen sollte, einen Bauunternehmer, einen Bartholomäus Grandauer und einen Münchner Architekten.Es gab viele Gespräche mit den Herren zur Architektur und zu Gestaltungsfragen sowie deren baulicher Umsetzung. Herr Grandauer bewunderte die Kunstwerke, und eines Tages machte Herr Professor Emeritus Putz eine umfangreiche Atelierführung, dabei zeigte er auch ältere Werke. Herr Grandauer war von einem Halbakt aus dem Jahre 1906 so fasziniert, dass er fragte, ob er es erwerben könne, nachdem er die Geschichte dazu gehört hatte. Leo Putz hatte inzwischen erfahren, dass Cara Sophia bereits 1909 tragisch verstorben war.Nach einigem Hin und Her einigten sie sich schließlich darauf, dass das Unternehmen Grandauer dafür Dachziegel liefern werde. 1936 war das Haus bezugsfertig, und Herr Grandauer erhielt das Gemälde.
Amadeus Glück
Noch immer lagen die unzähligen Briefe aus dem Tresor auf dem Küchentisch. Er hatte noch keine Zeit gehabt, sie anzusehen. Alle waren als „unzustellbar“ zurückgekommen. Warum hatte Amadeus die alle aufgehoben?Jetzt hatte er Zeit und Muße, sich die Briefe anzusehen. Er fuhr mit der Klinge des Küchenmessers unter den Falz eines Umschlags, schnitt ihn vorsichtig auf, ohne den Inhalt zu beschädigen, und entnahm mehrere Blätter.Wieder sah er die schöne, akkurate Handschrift von Amadeus. Buchstabe um Buchstabe sorgfältig gesetzt, jede Schleife, jeder Anstrich im selben Winkel, derselben Größe, da kippte nichts. Gleichmäßig gefüllt jede Zeile, ein Buchstabe wie der andere, jede Seite wie eine Urkunde, so majestätisch und erhaben wirkte das Ganze. Hans war beeindruckt, dachte‚ dass Amadeus mit dieser Handschrift in der Schule sicher die Schönschreibwettbewerbe gewonnen hatte. Jede Seite war versehen mit Ort, Datum und Seitenzahl. Er las: Grafing den 21.9.1942Lieber sehr geehrter Herr Grandauer,ich hoffe es geht Ihnen gut und Sie sind gut in Amerika angekommen, wie Sie vermuteten hatten, waren Höller und seine Schläger zwei Tage nach Ihrer Abreise da und wollten Sie verhaften. So kurz nach der Trauerfeier für Ihren werten Herrn Vater und die anderen Gefallenen! Der Höller hatte noch nie Anstand. Es ist schlimm, wenn Menschen die keine Herzensbildung haben, ein Quäntchen Macht in die Finger bekommen. Der Höller hatte Schaum vorm Mund, dass Sie weg waren! Die haben mich ziemlich in die Zange genommen. Dann hat er mich bedroht, dass ich Jude sei und so, aber mit meinen Abstammungsdokumenten konnte ich beweisen, dass ich kein Jude bin, da ist er fast nochmal geplatzt, der konnte einem richtig Angst machen.Nachdem Sie das Erbe ja aufgrund Ihres Untertauchens nicht antreten konnten und Ihre sehr verehrte Frau Mutter und das ebenso verehrte Fräulein Schwester ja einen Vermögensbesorger brauchten, stand zu befürchten, dass Höller alles konfiszieren würde. Ich habe Ihrer werten Frau Mutter die Vollmacht vorgelegt, aber sie meinte, dass wir beide nicht gegen den Höller ankommen werden. Ich solle die Villa verwalten, die Brauerei – da muss eine andere Lösung her, hat sie gemeint. Da hat Ihre Mutter alles auf Ihren ehrenwerten Großvater Herrn Mittermair Senior umschreiben lassen. Aber die Brauerei heißt weiter Grandauer und zwei Buben aus der Mittermair Familie, der eine vierzehn und der andere fünfzehn Jahre, lernen jetzt das Brauerhandwerk. Es steht zu befürchten, dass die eingezogen werden, wenn sie fertig sind damit. Es ist gekommen wie Sie es immer vorhergesagt und befürchtet hatten, Deutschland kämpft an so vielen Fronten. Menschen verschwinden irgendwie