Dich kriegen wir weich. Joachim Widmann

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Dich kriegen wir weich - Joachim Widmann

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      Joachim Widmann, Berlin, am 3. Oktober 2015

      Der Druck ist nicht gewichen

       Nachwirkungen der Dikatur

      „Alles kann ich gar nicht erzählen“, sagt Friedrich Gronau. Von 1952 bis 1989 hatte er immer wieder mit der Staatssicherheit zu tun. Als angeblicher Saboteur saß er zwölf Jahre lang im Gefängnis, dann wurde er bespitzelt: Verhör bei der Stasi; der Inoffizielle Mitarbeiter mit dem Decknamen „Helmut“ war ein Freund seines Sohnes, IM „Erna“ war die Nachbarin in Golzow, wo Gronau noch heute zurückgezogen lebt; als IM „Gossert“ war der örtliche Polizist auf seiner Spur.

      Nein, alles kann der alte Mann nicht erzählen. Aber jetzt, da die Deutsche Demokratische Republik und damit seine Schweigeverpflichtung dahin ist, kann er wenigstens die „Dinge, die mir wichtig sind“, loswerden. Da war im Zuchthaus Brandenburg der alte KPD-Mann Walter Bergner gewesen, der schon im KZ gesessen hatte wegen seiner Gesinnung und von der DDR nach einem Besuch beim westdeutschen SPD-Chef Kurt Schumacher wieder eingesperrt wurde. Nach zehn Jahren Haft, erzählt Gronau, wurde Bergner für vier Wochen auf eine Entlassungszelle verlegt, um dann doch weiter gefangen zu bleiben: „Der war ein gebrochener Mann hinterher.“ Oder der KPD-Mann Christian Eckert, der sich gegen die SED, „die Partei neuen Typs“, aufgelehnt hatte und für zwölf Jahre hinter Gitter mußte, obwohl er für seine Sache im griechischen Bürgerkrieg gekämpft hatte.

      In einer Einzelzelle saß in Brandenburg ein Junge, den Gronau kennenlernte, als er 17 war. „Der war als 12jähriger eingesperrt worden. Niemand wußte, warum. Auch er selbst nicht. Der konnte kaum sprechen.“

      Zeugen Jehovas, „die niemandem etwas getan hatten“, alte SPD-Genossen, teils ebenfalls schon mit KZ-Vergangenheit – Andersdenkende, die sich nicht gleichschalten ließen und daher zu Kriminellen gestempelt wurden.

      Mancher davon „hat im Leben nie etwas gehabt“, sagt Gronau, nur KZ, DDR-Gefängnis, Unrechtsurteile, und im Knast Gebrüll, Schläge, Dunkelarrest, Wasserzelle oder gar, bei Fehlverhalten: scharfe Hunde. Gronau fühlt sich als ein Hüter dieser dunklen Kapitel der Vergangenheit, es ist ihm wichtig, sich der Namen und der Biographien zu erinnern. Der gebeugte kleine Mann, dessen Unterlippe nervös zittert, wenn er von damals berichtet, lehnt sich in seinem Sessel nicht an, beugt sich zu seinen Zuhörern vor, mit beiden Händen die Krücke seiner Gehhilfe so fest umfassend, daß die Fingerknöchel weiß hervortreten.

      Je mehr er erzählt, desto mehr Erinnerungen drängen nach. Immer wieder bricht Gronau in Tränen aus, wenn er von den verpfuschten Jahren seiner Leidensgenossen spricht.

      Er senkt den Kopf, wischt sich die Tränen ab und entschuldigt sich.

      Von seinem eigenen Leben berichtet er weit gefaßter. Entrüstung hat ihn stets aufrechterhalten und ist bis heute sein stärkstes Gefühl, wenn von seiner Vergangenheit die Rede ist: „Ich habe nichts getan! Wie kann man einem unschuldigen Menschen so etwas antun?“

      Das ist eine rhetorische Frage. Die sozialistische Erziehung in Kindereinrichtung, Schule, Hochschule, die Bereitstellung von Arbeitsplätzen für alle und Ferieneinrichtungen für Werktätige, die Führung des Brigadetagebuchs, die Kollektivierung der Hausgemeinschaften und der Landwirtschaft, Sargproduktion, nationale Frage, Nationale Volksarmee, Selbstkritik, Zivilverteidigung, Außenpolitik, Hausordnung, Fortschritt, Traditionspflege, gesellschaftliche Kontrolle, Reiseerlaubnis, Körperkultur, Produktions- und Eigentumsverhältnisse, Grenzregime, Feierabendheim, Mieten, Brot- und Schnapspreis, Lenkung und Anleitung der Kulturschaffenden und der Medien sowie der Parteien des Demokratischen Blocks und der Organisationen der Nationalen Front – alles wurde bestimmt und war durchdrungen von den Kadern und den Verbündeten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Die SED hatte, wie alle Diktatoren, ein simples Weltbild: Hier die Freunde, da die Feinde.

      Gronau war ein „Feind“: zwölf Jahre Zuchthaus.

      Wer waren die Täter? Die Nomenklaturkader der SED? Nur die greisen Herrschaften im Zentralkomitee? Der Stasimann, der „nur seine Pflicht getan hat“, wenn er Richter zur Rechtsbeugung, Bürger zum Spitzeln, Menschen ins Gefängnis brachte?

      Die Moral der Geschichte ist klar: Vom teilnahmslosen Bürger, der von alledem nichts wissen wollte, über den, der sich durch geduckte Haltung, Opportunismus und Heuchelei kleine Fluchten und Vorteile verschaffte, und den kleinen, auf seinen persönlichen Nutzen bedachten Inoffiziellen Mitarbeiter bis hinauf zu Walter Ulbricht oder Erich Honecker war jeder ein Täter oder ist mindestens Teilhaber an der Verantwortung für das Unrecht, das den vermeintlichen Feinden des Systems angetan wurde.

      Die genaue Zahl der Opfer ist unbekannt. In der Zentralen Erfassungstelle Salzgitter wurden rund 42 000 Fälle registriert: Politsche Häftlinge, gescheiterte und umgekommene Republikflüchtige. Nach verschiedenen Schätzungen gab es von Oktober 1949 bis November 1989 in der DDR zwischen 150 000 und 200 000 Verurteilungen in politischen Prozessen. Im Potsdamer Militärarchiv lagern zudem um 100 000 „operative Tagesmeldungen“ über Grenzzwischenfällei.

      Doch repräsentieren diese Zahlen nur einen kleinen Teil der Misere. Als „politischer Prozeß“ nicht erfaßt wurden solche Verfahren, bei denen Tatbestände wie „Asoziales Verhalten“ oder „Diebstahl von Volkseigentum“ zur Verurteilung führten. Im Zuge der Rehabilitierung ehemaliger Strafgefangener sind den zuständigen Juristen immer wieder Fälle untergekommen, bei denen der politische Hintergrund der Urteilsbegründung direkt nicht zu entnehmen ist, aber anhand der Akten der Staatssicherheit nachgewiesen werden kann, daß Volkspolizei, Staatsanwaltschaft und Gericht unter dem Einfluß der SED nur den Anschein erweckten, ein ordentliches Strafverfahren zu führen – dabei war der Tatbestand konstruiert, die Beweise größtenteils falsch: eine politische Intrige gegen den Angeklagten.

      Solche Intrigen sind auch der Hintergrund für oft unmenschlich hohe Strafmaße gegen Angeklagte, deren Verbrechen einwandfrei nachgewiesen wurde: Wer Pech hatte, an dem wurde ein Exempel statuiert.

      Zudem wurden viele Menschen ohne Anklage monatelang inhaftiert und unter Druck gesetzt, um ihnen Geständnisse oder Aussagen über andere abzupressen. Wer ohne Klageerhebung und also ohne Verfahren freikam, taucht weder in der Statistik der Rehabilitierten noch in der der politischen Verfahren auf.

      Ein weiteres dunkles Kapitel ist die mitunter monatelang andauernde Verweigerung von Wohnung, Arbeit und Sozialleistungen für viele Angehörige politischer Häftlinge und Haftentlassene – auch hier ist die Zahl der Betroffenen nicht zu ermitteln. Dasselbe gilt für die vielen DDR-Bürger, die wegen mangelhaften „gesellschaftlichen Engagements“ in Parteien oder Massenorganisationen als unvollkommene Sozialisten in ihrem beruflichen Fortkommen oder – durch die Verweigerung von Oberschul- und Hochschulausbildung – in ihrer persönlichen Entwicklung behindert wurden.

      Opfer der besonderen Methoden, mittels derer die SED ihre Macht erhielt, sind zudem all jene, deren Recht auf Unversehrtheit der Privatsphäre verletzt wurde, sei es durch konspirative Überwachung oder durch Zersetzungsmaßnahmen. Nicht wenige, die sich trotz Mauer und Schießbefehl in der eingeschränkten, aber viele Sicherheiten und Rückhalte bietenden, kleinbürgerlichen Welt der DDR mit den geltenden Verhältnissen arrangiert hatten, lernten erst bei Akteneinsicht, daß sie nicht allein Herren über ihre Biographien gewesen waren.

      Hunderttausende Opfer, und doch hört man nur von den Prominenten, an denen die Medien interessiert sind. Als wären die anderen nur Zahlen in der Statistik, werden ihre Biographien als eine Gegebenheit hingenommen.

      Daß

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