Krieg und Frieden. Leo Tolstoi
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Die Prinzessin hatte eine falsche Antwort gegeben.
»Na, du bist aber doch auch zu dumm!« rief der Fürst, stieß das Heft von sich und wandte sich schnell ab. Im nächsten Augenblick stand er auf, ging ein paarmal im Zimmer hin und her, berührte leise mit den Händen das Haar der Prinzessin und setzte sich wieder hin.
Er rückte seinen Sessel an den Tisch heran und fuhr in seinen Erläuterungen fort.
»Ja, das muß sein, Prinzessin, das muß sein«, sagte er, als die Prinzessin das Heft mit den Aufgaben für das nächste Mal genommen und zugemacht hatte und bereits im Begriff war wegzugehen. »Die Mathematik ist eine wichtige Sache, mein Fräulein. Ich möchte nicht, daß du unsern dummen jungen Damen ähnlich bist. Nur Ernst und Ausdauer; dann gewinnt man die Sache lieb.« Er streichelte ihr mit der Hand die Wange. »Die Mathematik macht den Kopf klar.«
Sie wollte hinausgehen; aber er hielt sie durch eine Handbewegung zurück und nahm von dem Stehpult ein neues, unaufgeschnittenes Buch herunter.
»Da ist noch ein Buch mit dem Titel ›Der Schlüssel des Geheimnisses‹; das schickt dir deine Héloïse. Sie ist wohl sehr religiös. Nun, ich lasse jeden Menschen glauben, was er will, und menge mich da nicht ein. Ich habe nur ein wenig hineingesehen. Nimm! Nun, dann geh nur, geh!«
Er klopfte ihr auf die Schulter und machte selbst hinter ihr die Tür zu.
Prinzessin Marja kehrte mit der trüben, verschüchterten Miene, die nur selten von ihr wich und ihr an sich schon unschönes, kränkliches Gesicht noch unschöner machte, in ihr Zimmer zurück und setzte sich an ihren Schreibtisch, auf dem eine Menge kleiner Porträts standen und Hefte und Bücher in Massen umherlagen. Die Prinzessin war ebenso unordentlich, wie ihr Vater ordentlich war. Sie legte das Geometrieheft hin und erbrach ungeduldig den Brief. Der Brief kam von der besten Jugendfreundin der Prinzessin; diese Freundin war jene selbe Julja Karagina, die am Namenstag bei Rostows gewesen war.
Julja schrieb auf französisch:
»Liebe, teure Freundin!
Es ist doch etwas Schreckliches, etwas Entsetzliches, voneinander getrennt zu sein. Ich mag mir noch so oft sagen, daß Sie die Hälftes meines Daseins und meines Glückes bilden und daß trotz der Entfernung, die uns trennt, unsere Herzen durch unauflösliche Bande verknüpft sind, dennoch bäumt sich mein Herz gegen das Schicksal auf, und trotz der Vergnügungen und Zerstreuungen, die mich umgeben, bin ich nicht imstande, eine gewisse heimliche Traurigkeit zu überwinden, die ich seit unserer Trennung im tiefsten Grunde meines Herzens empfinde. Warum sitzen wir nicht mehr wie in diesem Sommer in Ihrem großen Zimmer zusammen auf dem blauen Sofa, dem ›Sofa der vertraulichen Bekenntnisse‹? Warum kann ich nicht mehr wie vor drei Monaten neue seelische Kraft aus Ihrem so sanften, ruhigen, tiefdringenden Blick schöpfen, aus diesem Blick, den ich so sehr liebte, und den ich jetzt, wo ich an Sie schreibe, vor mir zu sehen glaube!«
Als Prinzessin Marja bis zu dieser Stelle gelesen hatte, seufzte sie und betrachtete sich in dem Trumeau, der rechts von ihr stand. Der Spiegel zeigte ihr einen unschönen, schwächlichen Körper und ein mageres Gesicht. Ihre Augen, auch sonst immer traurig, blickten jetzt mit dem Ausdruck ganz besonderer Hoffnungslosigkeit auf ihr Spiegelbild. »Sie will mir schmeicheln«, sagte die Prinzessin zu sich selbst, wandte sich vom Spiegel ab und fuhr fort zu lesen. Jedoch hatte Julja ihrer Freundin wirklich keine leere Schmeichelei geschrieben: die großen, tiefen, leuchtenden Augen der Prinzessin, die mitunter geradezu ganze Garben eines warmen Lichtes auszustrahlen schienen, waren tatsächlich so schön, daß trotz der Unschönheit des ganzen übrigen Gesichtes diese Augen oft reizvoller wirkten als es ein schönes Gesicht vermocht hätte. Aber die Prinzessin bekam diesen schönen Ausdruck ihrer Augen nie zu sehen, diesen Ausdruck, welchen sie in den Augenblicken annahmen, wo sie gar nicht an sich selbst dachte. Wie bei allen Menschen erhielt ihr Gesicht einen gespannten, unnatürlichen, häßlichen Ausdruck, sobald sie sich im Spiegel betrachtete. Sie las weiter:
»Ganz Moskau spricht nur vom Krieg. Von meinen beiden Brüdern befindet sich der eine schon im Ausland; der andere steht bei der Garde, die jetzt ihren Marsch nach der Grenze antritt. Unser teurer Kaiser hat Petersburg verlassen, und wie man behauptet, beabsichtigt er, sein kostbares Leben selbst den Wechselfällen des Krieges auszusetzen. Gott wolle geben, daß das korsische Ungeheuer, das die Ruhe Europas stört, durch den Engel niedergeschmettert werde, den Er, der Allmächtige, in Seiner Barmherzigkeit uns zum Herrscher gegeben hat. Ganz abgesehen von meinen Brüdern hat mich dieser Krieg eines Umganges beraubt, der meinem Herzen besonders teuer war. Ich meine den jungen Nikolai Rostow, der in seiner Begeisterung es nicht hat ertragen können, untätig zu bleiben, und die Universität verlassen hat, um in die Armee einzutreten. Ja, liebe Marja, ich will es Ihnen gestehen, daß, obwohl er noch ein sehr, sehr junger Mensch ist, sein Abgang zur Armee mir ein großer Schmerz gewesen ist. Dieser junge Mann, von dem ich Ihnen schon im Sommer erzählte, besitzt eine edle Gesinnung und eine echt jugendliche Frische, wie man sie nur so selten in unserem Jahrhundert antrifft, wo wir unter zwanzigjährigen Greisen leben. Besonders hervorzuheben sind sein Freimut und seine Herzhaftigkeit. Sein ganzes Denken ist so rein und poetisch, daß meine Beziehungen zu ihm, so flüchtig sie auch waren, dennoch eine der süßesten Freuden meines Herzens bildeten, das schon so viel gelitten hat. Ich werde Ihnen später einmal erzählen, wie wir voneinander Abschied nahmen, und Ihnen alles mitteilen, was wir dabei gesprochen haben. Jetzt ist das alles noch zu frisch. Ach, meine teure Freundin, Sie können sich glücklich schätzen, daß Sie diese Freuden und diese qualvollen Leiden nicht kennen. Jawohl, glücklich; denn die letzteren sind gewöhnlich viel stärker! Ich weiß sehr wohl, daß Graf Nikolai zu jung ist, als daß er mir jemals mehr als ein Freund werden könnte. Aber diese süße Freundschaft, dieses reine, poetische Verhältnis ist meinem Herzen ein Bedürfnis gewesen. Aber sprechen wir nicht mehr davon.
Die große Tagesneuigkeit, die ganz Moskau beschäftigt, ist der Tod des alten Grafen Besuchow und seine Hinterlassenschaft. Denken Sie sich, die drei Prinzessinnen haben nur ganz wenig bekommen, Fürst Wasili gar nichts, und Monsieur Pierre hat alles geerbt und ist obendrein als legitimer Sohn anerkannt worden, somit jetzt Graf Besuchow und Besitzer des größten Vermögens in ganz Rußland. Es heißt, Fürst Wasili habe in dieser ganzen Angelegenheit eine recht häßliche Rolle gespielt und sei mit sehr langem Gesicht nach Petersburg zurückgefahren.
Ich muß Ihnen gestehen, mein Verständnis von diesen Testamentsangelegenheiten ist nur ein sehr geringes; aber seit der junge Mann, den wir alle unter dem simplen Namen Monsieur Pierre kannten, Graf Besuchow und Herr eines so gewaltigen Vermögens geworden ist, ist es für mich ein köstliches Amüsement, bei den mit heiratsfähigen Töchtern gesegneten Müttern und bei diesen jungen Damen selbst zu beobachten, wie sich ihr Ton und ihr ganzes Benehmen diesem jungen Mann gegenüber geändert haben, der mir, beiläufig gesagt, immer als ein herzlich unbedeutendes Individuum erschienen ist. Wie die Leute schon seit zwei Jahren ihr Vergnügen darin finden, mich mit jungen Männern zu verloben, die ich meistens gar nicht kenne, so macht mich jetzt der Moskauer Heiratsklatsch zur Gräfin Besuchowa. Aber Sie können sich leicht denken, daß mein Streben nicht im entferntesten dahin geht, es zu werden. Da ich aber gerade vom Heiraten rede: was sagen Sie dazu, daß mir vor kurzem die ›Allerweltstante‹ Anna Michailowna unter dem Siegel des tiefsten Geheimnisses ein Heiratsprojekt für Sie anvertraut hat? Und zwar handelt es sich um nicht mehr und nicht weniger als um den Sohn des Fürsten Wasili, Anatol, der durch die Heirat mit einem reichen, vornehmen Mädchen wieder in geordnete Verhältnisse gebracht werden soll; und da ist nun die Wahl seiner Eltern auf Sie gefallen. Ich weiß nicht, wie Sie die Sache ansehen werden; aber ich habe es für meine Pflicht gehalten, Sie davon in Kenntnis zu setzen. Es heißt, er sei ein sehr schöner junger Mann, aber ein arger Taugenichts; das ist alles, was ich über ihn habe in Erfahrung bringen können.
Aber nun genug mit diesem Geplauder! Ich bin schon am Ende des zweiten Briefbogens