Krieg und Frieden. Leo Tolstoi
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Der Bruder schüttelte ungläubig den Kopf.
»Es ist nur eines, was mir das Herz bedrückt (ich will es dir offen sagen, Andrei): das ist des Vaters Denkungsart in religiösen Dingen. Ich begreife nicht, wie es möglich ist, daß ein Mann mit einem so enormen Verstand das nicht sieht, was doch sonnenklar ist, und wie er in solche Irrtümer hineingeraten kann. Siehst du, das ist mein einziges Leid. Aber auch auf diesem Gebiet scheint sich in der letzten Zeit eine leise Besserung anzubahnen. In der letzten Zeit sind seine Spötteleien nicht mehr so scharf und beißend gewesen wie früher, und er hat sogar den Besuch eines Mönches empfangen und lange mit ihm geredet.«
»Liebe Marja, ich fürchte, daß du und der Mönch euer Pulver unnütz vergeudet«, erwiderte Fürst Andrei spöttisch, aber freundlich.
»Ach, lieber Bruder, ich bete zu Gott und hoffe, daß Er mich erhören wird ... Andrei«, fügte sie schüchtern nach kurzem Stillschweigen hinzu, »ich habe eine große Bitte an dich.«
»Was denn, meine Gute?«
»Nein, versprich mir erst, daß du es mir nicht abschlagen wirst. Es wird dir keinerlei Mühe machen, und es liegt nichts darin, was deiner unwürdig wäre. Aber du wirst mir damit eine Beruhigung verschaffen. Versprich es mir, Andruscha«, bat sie, indem sie die Hand in ihren Ridikül steckte und etwas darin erfaßte, was sie aber noch nicht zeigte, wie wenn das, was sie in der Hand hielt, den Gegenstand der Bitte bildete und sie dieses Ding nicht aus dem Ridikül herausholen dürfte, ehe sie nicht das Versprechen empfangen hätte, daß ihre Bitte werde erfüllt werden.
Sie blickte ihren Bruder schüchtern mit flehenden Augen an.
»Selbst wenn es mir große Mühe machen sollte ...«, antwortete Fürst Andrei, der wohl schon erraten mochte, um was es sich handelte.
»Du kannst ja darüber denken, wie du willst! Ich weiß, du bist darin ebenso wie unser Vater. Denke darüber, wie du willst; aber tu es mir zuliebe. Bitte, tu es! Schon der Vater unseres Vaters, unser Großvater, hat es in allen Kriegen getragen ...« (Sie zog den Gegenstand, den sie in der Hand hatte, immer noch nicht aus dem Ridikül hervor.) »Also du versprichst es mir?«
»Gewiß. Um was handelt es sich denn also?«
»Andrei, ich möchte dich mit einem Heiligenbild segnen, und du mußt mir versprechen, daß du es niemals ablegen wirst. Versprichst du es mir?«
»Wenn es nicht zwei Pud schwer ist und mir den Hals nicht herunterzieht ... Um dir eine Freude zu machen ...«, sagte Fürst Andrei; aber im selben Augenblick tat es ihm auch schon leid, so geantwortet zu haben, da er an dem Gesicht seiner Schwester sah, daß dieser Scherz sie verletzt hatte. »Sehr gern werde ich es tun, wirklich sehr gern, liebe Marja«, fügte er hinzu.
»Auch wenn du nicht daran glaubst, wird der Heiland dich erretten und Sich deiner erbarmen und dich zu Sich zurückführen; denn in Ihm allein ist Wahrheit und Friede«, sagte sie mit einer vor innerer Erregung zitternden Stimme und hielt mit feierlicher Gebärde in beiden Händen ein ovales, altertümliches Christusbildchen, mit schwarz gewordenem Gesicht, in silbernem Rahmen, an einem fein gearbeiteten silbernen Kettchen, dem Bruder entgegen.
Sie bekreuzte sich, küßte das Bildchen und reichte es dem Fürsten Andrei hin.
»Bitte, Andrei, mir zuliebe ...«
Ihre großen, guten, schüchternen Augen strahlten ein schönes helles Licht aus. Diese Augen verklärten das ganze kränkliche, magere Gesicht und machten es schön. Der Bruder wollte das Heiligenbild hinnehmen, aber sie hielt ihn zurück. Andrei verstand sie, bekreuzte sich und küßte das Bild. Sein Gesicht zeigte gleichzeitig zärtliche Rührung und leisen Spott.
»Ich danke dir, lieber Bruder!«
Sie küßte ihn auf die Stirn und setzte sich wieder auf das Sofa. Beide schwiegen.
»Um was ich dich schon gebeten habe, Andrei«, begann dann die Prinzessin: »sei gut und großherzig, wie du es immer gewesen bist, und sei nicht zu streng gegen Lisa. Sie ist so lieb und gut und befindet sich jetzt in einer sehr schweren Lage.«
»Ich habe doch wohl nichts zu dir gesagt, Marja, als ob ich meiner Frau irgendeinen Vorwurf zu machen hätte oder mit ihr unzufrieden wäre. Warum sagst du mir also das alles?«
Auf dem Gesicht der Prinzessin Marja erschienen rote Flecke, und sie schwieg, wie wenn sie sich schuldig fühlte.
»Ich habe dir nichts gesagt, und doch ist dir schon etwas gesagt worden. Und das betrübt mich.«
Die roten Flecke traten auf der Stirn, dem Hals und den Wangen der Prinzessin Marja noch stärker her vor. Sie wollte etwas sagen, war aber nicht imstande, es herauszubringen. Aber der Bruder erriet den Hergang: die kleine Fürstin hatte nach dem Mittagessen geweint, hatte gesagt, sie ahne eine unglückliche Entbindung und fürchte sich davor, und hatte sich über ihr Schicksal, über ihren Schwiegervater und über ihren Mann beklagt; nachdem sie sich ausgeweint hatte, war sie dann eingeschlafen. Dem Fürsten Andrei tat seine Schwester leid.
»Eines kann ich dir versichern, Marja: ich kann meiner Frau keinen Vorwurf machen, habe ihr nie einen Vorwurf gemacht und werde niemals in die Lage kommen, es zu tun; auch mir selbst habe ich mit Bezug auf sie nichts vorzuwerfen; und das wird stets so bleiben, in welcher Lage auch immer ich mich befinden mag. Aber wenn du die Wahrheit wissen willst ... wenn du wissen willst, ob ich glücklich bin: nein! Ob sie glücklich ist: nein! Und woher das kommt: ich weiß es nicht ...«
Nach diesen Worten stand er auf, trat zu seiner Schwester, beugte sich nieder und küßte sie auf die Stirn. Aus seinen schönen Augen leuchteten Verstand und Herzensgüte in ungewöhnlichem Glanz; aber er blickte nicht die Schwester an, sondern über ihren Kopf hinweg in das Dunkel der offenstehenden Tür.
»Wir wollen zu ihr gehen; ich muß Abschied nehmen. Oder geh du allein und wecke sie; ich komme sofort nach ... Peter!« rief er dem Kammerdiener zu, »komm her und nimm die Sachen. Dies hier kommt unter den Sitz, und dies auf die rechte Seite.«
Prinzessin Marja stand auf und ging nach der Tür hin; aber sie blieb noch einmal stehen.
»Andrei, wenn du gläubig wärest, dann hättest du dich im Gebet an Gott gewendet, daß Er dir die Liebe verleihen möge, die du in deinem Herzen nicht empfindest, und dein Gebet wäre erhört worden.«
»Ja, das mag sein!« erwiderte Fürst Andrei. »Geh, Marja, ich komme auch gleich.«
Auf dem Weg nach dem Zimmer seiner Schwester, in der Galerie, die die beiden Teile des Hauses miteinander verband, stieß Fürst Andrei auf die freundlich lächelnde Mademoiselle Bourienne, die ihm schon zum drittenmal an diesem Tag mit ihrem schwärmerischen, kindlich-naiven Lächeln in einsamen Gängen begegnete.
»Ah, ich glaubte, Sie wären in Ihrem Zimmer«, rief sie, wobei sie ohne erkennbaren Grund errötete und die Augen niederschlug.
Fürst Andrei warf ihr einen strengen Blick zu und machte ein zorniges Gesicht. Er sagte kein Wort zu