Hans Fallada: Damals bei uns daheim – Band 187e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski. Ханс Фаллада
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Feierliche Abendessen, zu jenen grauen Vorzeiten um das Jahr 1905 herum „Diners“ genannt, waren der Schrecken meiner Eltern, aber die Wonne von uns Kindern. War das Weihnachtsfest vorüber, hatten zu Neujahr Portier, Briefträger, Schornsteinfeger, Waschfrau, der Milch- wie der Bäckerjunge ihren meist sowohl hinten gereimten wie auf buntes Papier gedruckten Neujahrswunsch abgegeben und dafür nach einer geheimnisvollen Preisskala Beträge von zwei bis zu zehn Mark empfangen, so fing meine gute Mutter erst sachte, bald dringlicher an zu mahnen: „Arthur, wir müssen wohl allmählich an unser Diner denken!“
Zuerst sagte mein Vater nur leichthin: „Das hat gottlob noch ein bisschen Zeit!“ Später seufzte er, schließlich stimmte er bei: „Dann werden wir also wieder einmal in den sauren Apfel beißen müssen. Aber das sage ich dir, Louise: mehr als fünfundzwanzig Personen laden wir diesmal nicht ein! Das vorige Mal war eine Fülle, dass keiner bei Tisch die Ellbogen bewegen konnte!“
Worauf Mutter ihm zu bedenken gab, dass wir, bloß um uns zu „revanchieren“, mindestens vierzig Personen einladen müssten. „Sonst müssen wir eben zwei Diners geben, und zweimal diesen Aufstand im Hause zu haben, das bringt dich und mich um! Außerdem würden die zum zweiten Diner Eingeladenen alle gekränkt sein, denn ein zweites Diner gilt doch nur als Lumpensammler!“
So glitten die Eltern ganz von selbst in immer häufigere eifrige Debatten über „unser Diner“. Debatten, denen wir Kinder mit größter Anteilnahme lauschten. Noch nicht so wichtig war uns die Frage, wer geladen wurde, wer neben wem sitzen sollte, trotzdem grade diese Frage meinen Eltern besonderes Kopfzerbrechen machte. Denn einesteils waren Rangordnung und Dienstalter (unter Berücksichtigung etwaiger Ordensauszeichnungen) strengstens zu beachten, zum anderen mussten auch persönliche Sym- und Antipathien bedacht werden. Und schließlich entstand die schwere Frage: Hatten die so für ein vierstündiges Essen aneinander Gebannten sich auch was zu erzählen? Frau Kammergerichtsrat Zehner schwärmte nur für den Tirpitzschen Flottenverein, und Herrn Kammergerichtsrat Siedeleben interessierten neben seiner Juristerei nur kirchliche Dinge – ein solches Paar würde nie guttun! Und der liebe Kammergerichtsrat Bumm war auf dem linken Ohr taub, wenn er es auch nicht wahr haben wollte: schon fünfmal hatte in diesem Winter bei anderen Kammergerichtsdiners Frau Kammergerichtsrat Elbe (Gutsbesitzerstochter vom Lande) neben ihm gesessen. Es machte ihr nichts aus, auch mal ein bisschen zu schreien, aber konnte man es ihr wirklich ein sechstes Mal zumuten –?
Hatten die Eltern aber glücklich das kunstvolle Gebäude einer solchen Tischordnung errichtet und die Einladungen mit der mir sehr imponierenden Formel: U. A. w. g. (Um Antwort wird gebeten) durch Berlin versandt, so wurde unausbleiblich der Bau schon mit den ersten Antworten erschüttert bis in seine Grundfesten: der hatte die Influenza, dem war eben die Mutter gestorben, hier hatten die Kinder Diphtherie...
„Nein!“ seufzte dann mein Vater, der sich immer am wohlsten über seinen Akten fühlte, „diese Abfütterungen sind etwas Schreckliches! Keiner schätzt sie. Warum verabreden wir uns nicht eigentlich alle, mit dem Unsinn Schluss zu machen –?!“
Aber dies war ein rein rhetorischer Ausruf. Mein Vater wusste wohl, solchen Gedanken auch nur zu hegen, grenzte an anarchistischen Umsturz. Alles, was sich in der Juristerei kannte, lud sich alle Winter gegenseitig ein, wie das Offizierskorps sich untereinander einlud, wie die Geistlichkeit zu einem Teller Suppe bat, der auch vier Stunden dauerte – alles schön nach Ämtern und Klassen getrennt, dass nur kein neuer Gedanke in die altgewohnten Kreise kam!
Doch, wie schon gesagt, diese Fragen interessierten uns Kinder nur als die Vorfragen der Hauptfrage: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? (Nämlich die Mama, für den Papa war Gehrock mit weiß pikierter Weste selbstverständlich).
Oh, diese wichtige Frage: Koch oder Köchin? Jeder Koch war nach einem alten Glaubenssatz tüchtiger als jede Köchin, aber er war auch teurer und ließ sich nie etwas sagen. Mit der Köchin ließ sich angenehmer arbeiten, aber das letzte Mal war das Filet zäh gewesen, und die Eisbombe war ihr zusammengefallen.
Ganz Fortgeschrittene ließen das Essen auch schon aus einer Stadtküche kommen, das dann im Hause nur aufgewärmt wurde. Aber dafür war Mutter gar nicht: „Es ist nicht das richtige, Arthur. Es schmeckt eben doch aufgewärmt!“
In unserem Hause fiel nach langen Erörterungen die Entscheidung unweigerlich für die Köchin, trotz des zähen Filets und der zusammengefallenen Bombe. Dann erschien Frau Pikuweit eines Nachmittags zu einer Vorbesprechung mit Mutter, und wenn ich es irgend so einrichten konnte, schmuggelte ich mich zu dieser Besprechung ein. (Von daher datiere ich meine nie nachlassende Liebe für die guten Speisen dieser Erde.)
Da saß dann also die gute Frau Pikuweit vor meiner Mutter, sie sah in ihrer bürgerlichen Alltagstracht lange nicht so majestätisch aus wie am Tage ihres Wirkens in schneeigem Weiß mit einer immer rutschenden gestärkten Haube auf dem Kopf. Die beiden Frauen verhandelten immer eifriger und schließlich immer verzweifelter über die Gänge – nach einer heiligen Tradition mussten es sieben oder neun sein, ich weiß es so genau nicht mehr. Meine Mutter hatte alle Speisenfolgen – sprich Menüs – dieses Winters, durch die sie sich schon hindurchgegessen hatte, aufbewahrt –: es sollte doch auch etwas Abwechslung sein!
Und nun fielen geheimnisvolle Worte: Haricots verts, Sauce Béarnaise, Sauce Cumberland, Soupe à la Reine, Cremor tartari, Aspik – Worte, die mir märchenhafter vorkamen als jedes Märchen! Schon wenn ich den Ausdruck „Krebsnasen“ hörte – man denke Nasen von Krebsen, man aß Nasen! –, wurde mir ganz anders, und ich sah die fette, weißgelbliche Sauce vor mir, mit den kleinen rötlichen Fettkreisen und den schwarzen Knopfaugen und langen roten Fühlern der Krebse...
Was die Speisenfolge anging, zeigte sich Vater uninteressierter. Er war so unglücklich, gallenleidend zu sein, und aß allwinterlich fünfundzwanzigmal seine vier Stunden ab, indem er nicht mehr als eine Scheibe Fleisch und einen Löffel Prinzessbohnen aß, wozu er ein Glas Sauerbrunnen trank. Pro forma wurde ihm stets ein Glas Wein gefüllt, das er aber nur bei ganz feierlichen Toasten mit den Lippen berührte. Dass mein lieber Vater die lange Folterqual dieser ihm immer wieder neu servierten Schüsseln mit den verlockendsten Gerichten stets in bester Laune überstand, zeigt sowohl seinen Sinn für das Schickliche wie sein grundgütiges Herz, das gottlob alle Galle nicht hatte verderben können.
Beim Menü ratete und tatete mein Vater also nicht viel mit, außer dass er sich ein Vetorecht wegen zu hoher Kosten vorbehielt. Denn solche Abfütterung kostete immer drei- bis vierhundert Mark, und das spielte in dem Etat eines Kammergerichtsrats, der vier Kinder hochzubringen hatte, eine sehr erhebliche Rolle!
Dafür hatte aber Vater als rein männliches Geschäft den Wein zu besorgen. An sich wäre auch meine Mutter dafür die richtigere gewesen, denn sie trank wenigstens ab und zu ein Glas Wein. Aber die Zeiten waren nun einmal so, dass das Weibliche unter keinen Umständen in männliche Vorrechte eingreifen durfte: Männer tranchierten den Braten, rauchten und kauften den Wein, Frauen waren für Küche, Kinder und Dienstboten zuständig.
Ich fürchte, diese Weinkäufe von Vater sind nicht immer sehr erfolgreich gewesen. Vater, der ein sparsamer Mann war und es auch sein musste, wählte den Wein mehr nach dem Preis als nach Lagen, und sein Weinhändler beriet ihn, wie es seinem Lager zur Räumung schwer verkäuflicher Reste gut tat. Vielleicht tue ich meinem Vater mit diesem Verdacht unrecht, aber ich erinnere mich, dass ich einmal im Badezimmer die beiden Lohndiener überraschte. In der Wanne des Badezimmers wurde nämlich der Weißwein kalt gestellt. Da standen, als ich aus unaufschiebbaren Gründen eilig hineinplatzte, die beiden Helden, jeder eine Flasche Wein