Hans Fallada: Damals bei uns daheim – Band 187e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski. Ханс Фаллада
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Da weinte meine Mutter, Gott sei Dank erst, als alle gegangen waren, an Vaters Brust
„Es passiert immer wieder etwas Neues, Louise!“ sagte mein Vater tröstend. „Pass auf, in vier Wochen wird von etwas ganz anderem geredet! Warte, übernächsten Donnerstag ist Diner bei Siedelebens, vielleicht passiert bei denen auch mal was!“
„Bei denen nie!“ rief meine Mutter weinend. „Diese kalte Person! Die ist nichts wie ein Anstandsbuch!“
„Wir wollen es ja nicht wünschen“, meinte mein Vater. „Aber wer weiß, wer weiß ...“
Doch ging das Siedelebensche Diner ohne jeden Zwischenfall vorüber. Alles lief wie am Schnürchen, es gab weder abgeleckte Löffel, noch fehlten Baumkuchennasen, auch war kein Lohndiener betrunken. Genau wie ein Uhrwerk rollte das Festessen ab. Die Weine waren vorzüglich, das Dessert bezaubernd, die Zigarren über jede Kritik erhaben. Meiner Mutter unausstehlich in ihrer Unfehlbarkeitspose, präsidierte Frau Kammergerichtsrätin Siedeleben, und streifte ihr Blick meine Mutter, so las diese in ihm: So müssen wirkliche Diners aufgezogen werden, meine kleine Landpomeranze!
Solche Makellosigkeit war wirklich kaum zu ertragen!
Bis sich am nächsten Tag die Kunde verbreitete ... Zuerst schien sie völlig unglaubhaft, nahm dann festere Gestalt an, gewisse Tatsachen wurden als unumstößlich festgestellt ... So viel war gewiss: mitten im Monat saß Frau Kammergerichtsrat Siedeleben ohne alle Dienstboten da, vor einem ungeheuren Aufwasch, in einer nahezu verwüsteten Wohnung!
Und der Grund –?! Aber, meine Liebe, der Grund –?!! Seit wann laufen Dienstboten noch in der Nacht hinter einem Diner fort –?! In solcher Nacht will doch jedes ein bisschen schlafen!
Es hatte eine Schlägerei gegeben, eine veritable Schlägerei zwischen den Lohndienern und den Dienstboten des Siedelebenschen Hauses!
Aber warum?! Sagen Sie doch bloß warum?!! Man schlägt sich doch nicht, todmüde nach einem Diner!
Mit geheimnisvoller, düsterer Stimme: Die Trinkgelder sollen ja verschwunden sein!
Und mit einem tiefen Aufatmen: Ach dann! Das erklärt freilich vieles!
Nicht ganz umsonst aßen Kammergerichtsräte festlich an der Tafel ihrer Kollegen. Mussten sich die Gastgeber Kosten machen, gingen auch die Gäste nicht frei aus. Schon während des Diners ruhte das Auge manchen Ehepaars nachdenklich auf den servierenden Gestalten, und beim Kaffee tauschten dann Mann und Frau geheimnisvolle Flüsterworte.
„Sieben!“ sagte Vater.
„Fünf ist völlig genug“, meinte meine Mutter. „Man soll die Leute auch nicht verwöhnen.“
„Aber es sind zwei Lohndiener, und drei sind in der Küche“, wandte Vater ein. „Es müssten eigentlich sieben fünfzig sein.“
„Fünf sind genug“, beharrte Mutter. „Du gibst immer zu viel, Arthur.“
„Nun“, sagte mein Vater, „ich will sehen, was Präsident Cornils gibt. Schließlich sollen die Leute auch eine kleine Freude haben. Ihre Füße müssen nach all der Lauferei schrecklich wehtun.“
„Meine Füße tun auch oft weh“, sagte Mutter kurz. „Nicht mehr als fünf, Arthur!“
Fuhren die Gäste dann in ihre Kleider, so stand auf dem Flur, diskret abseits auf einem Tischchen, ein Teller oder besser noch, weil unauffälliger, ein zinnernes Schüsselchen. Und während die Frauen vor dem Spiegel ihre Spitzentücher über der lockengebrannten Frisur zurechtlegten, traten die Herren sachte vor diese Opferschale und ließen so leise wie möglich ihren Beitrag hineingleiten. Dabei lag über dem Ganzen ein Anschein von etwas nahezu Verbotenem: das Geld durfte nicht klappern, der Herr tat so, als sei er mit seinen Handschuhen oder mit einem Bilde an der Wand über der Opferschale beschäftigt. Denn Trinkgelder, noch dazu im Hause eines Kollegen, zu geben, war nicht recht fein, wie auch Geldbesitzen zwar wünschenswert, aber davon zu reden als „shocking“ galt.
Trotz all dieser Vorsicht war der Trinkgeldgeber sich völlig darüber klar, dass sein Tun diskret, aber genau beobachtet wurde, einmal von Kollegen, die sich über die Höhe ihres Beitrags nicht klar waren, zum anderen aber von den in die Mäntel helfenden Lohndienern und den Dienstmädchen, die den Damen bei ihrer Toilette beistanden. Denn deren Ernte war es, die sich dort sammelte...
War aber der letzte Gast gegangen, fielen alle Bande frommer Scheu. Schamlos offen wurde von den Lohndienern unter dem achtsamen Geleit der Mädchen der Teller in die Küche getragen und unter oft recht heftigen Wechselreden zur Teilung geschritten. Schon bei der Prozession wurden manchmal recht abfällige Reden laut, die „Popligkeit“ und „Gnietschigkeit“ mancher Gäste wurde heftig angeprangert: die Herrschaft tat gut, solchem zuchtlosen Treiben fern zu bleiben.
Freilich gab es bestimmte Hausfrauen, unter ihnen die Rätin Siedeleben, die es grade für ihre Pflicht erachteten, bei diesen Teilungen anwesend zu sein, damit es gerecht zugehe. (Und damit sie für ihre Freundinnen wertvolles Material sammelte. Y hatte nur zwei Mark hingelegt, aber nach Aussage des Lohndieners hatte er sich doch wahrhaftig die eigene Tasche mit der schönen Havanna des Hausherrn gefüllt. „Nicht, dass ich es behauptete, Liebe, denn ich habe es nicht gesehen. Aber der Lohndiener sagt es, und er hat es gesehen! – Und was meinen Sie dazu, Liebe, der Schulte hat zehn Mark auf den Teller gelegt, mehr als Präsident Cornils – und wie unterernährt sehen die Kinder von Schultes aus! Sie sagt immer, sie müssen sparen. Aber wenn sie sowas Sparen nennen, ich nenne es Protz!“)
Aber in dieser schrecklichen Nacht hatte Frau Kammergerichtsrat Siedeleben keine Gelegenheit, die Teilung zu überwachen: sofort nach dem Fortgang des letzten Gastes, des Kammergerichtsrates Elbe mit Frau, wurde entdeckt, dass der Teller mit den Trinkgeldern seines Inhalts beraubt worden war. Ratzekahl stand er da im diskreten Winkel, nicht eine jämmerliche Mark lag noch auf ihm!
Und ehe Frau Siedeleben noch ein Wort zu dieser Katastrophe hatte äußern können, war der wildeste Streit im Gange: die Mädchen beschuldigten die Lohndiener. Die Lohndiener aber waren gesonnen, gegen die Mädchen handgreiflich zu werden, um ihnen den vermeintlichen Raub abzujagen. Jede Partei kämpfte mit der äußersten Erbitterung, ging es doch um einen Gesamtbetrag von über hundert Mark, und das war damals noch sehr viel mehr Geld als heute. Die Mädchen bekamen Zuzug aus der Küche durch Köchin und Abwaschfrau, wild tobte der Kampf.
Aus der ehelichen Schlafstube fuhr ungnädig der Kammergerichtsrat, schon in Hosenträgern und Schlappen – er war aber nur ein Männchen. Ungehört verhallte das gefürchtete Befehlsorgan der Siedeleben; aus der Wohnung unten und aus der Wohnung oben wurde geschickt, dass dieser ruhestörende Lärm nachts um halb drei unbedingt abgestellt werden müsse ... aber der Kampf tobte weiter.
Schließlich suchten sie einander die Kleider ab: ergebnislos. Dann kam die Wohnung daran, die bei dieser Gelegenheit in eine Wüste verwandelt wurde – ohne Resultat. In der Küche erneute sich, es war mittlerweile vier Uhr morgens geworden – der Streit.
Unterdes war der erschöpfte Herr Siedeleben dafür, den Leuten einen vernünftigen Abstand zu zahlen, das Geld werde sich schon wieder anfinden.
Frau Siedeleben sagte ganz unkammergerichtlich: „Quatsch! Sie sollen mir was zahlen für den Zustand, in den sie meine Wohnung versetzt haben! Und überhaupt gehe ich gleich mit allen Sechsen zur Polizei!“