Der Traum. Emile Zola

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Der Traum - Emile Zola Die Rougon-Macquart

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du das nicht hättest, hättest du gar nichts.‹ Und ich wußte, wo sie es seit dem Tode von Mama Thérèse versteckt hielten, im Schubfach oben in der Kommode ... Da bin ich über die beiden hinweggestiegen, habe das Buch genommen und bin losgerannt und habe es dabei unter meinem Arm an meine Haut gepreßt. Es war zu groß, ich bildete mir ein, alle Leute könnten es sehen, man würde es mir wegnehmen. Oh, ich bin gerannt und gerannt! Und als es stockfinstere Nacht war, habe ich unter diesem Tor gefroren, daß ich glaubte, ich sei nicht mehr am Leben. Doch das macht nichts, ich habe es nicht losgelassen, da ist es!« Und mit einem jähen Ruck entriß sie es den Huberts, gerade als diese es zumachten, um es ihr zurückzugeben. Dann setzte sie sich wieder und sank am Tisch zusammen, preßte dabei das Büchlein in ihre Arme und schluchzte, die Wange an den Umschlagdeckel aus rosa Leinen geschmiegt. Ein schreckliches Gefühl der Demut schlug ihren Stolz nieder, ihr ganzes Wesen schien in dem bitteren Schmerz über diese wenigen Seiten mit den abgenutzten Ecken dahinzuschmelzen, über dieses armselige Ding, das ihr Schatz war, das einzige, was sie noch mit dem Leben der Welt verband. Sie konnte eine so große Verzweiflung gar nicht aus ihrem Herzen herausweinen, ihre Tränen flossen, flossen ohne Ende; und in dieser völligen Zerknirschung bekam sie wieder das hübsche Gesicht eines Blondköpfchens mit dem ein wenig länglichen, sehr reinen Oval, ihre veilchenfarbenen Augen, die vor Zärtlichkeit wieder heller wurden, den zierlichen Schwung ihres Halses, der sie einer kleinen Jungfrau im Kirchenfenster gleichen ließ. Plötzlich ergriff sie Hubertines Hand, preßte ihre nach Liebkosungen gierigen Lippen darauf und küßte sie leidenschaftlich.

      Den Huberts drehte es das Herz im Leibe um, während sie, selber dem Weinen nahe, stammelten: »Liebes, liebes Kind!«

      Sie war also noch nicht ganz so schlimm? Vielleicht konnte man die Kleine von dieser Heftigkeit heilen, die sie beide so in Schrecken versetzt hatte.

      »Oh, ich bitte Sie, bringen Sie mich nicht zu den anderen zurück!« stammelte sie. »Bringen Sie mich nicht zu den anderen zurück!«

      Mann und Frau hatten sich angesehen. Seit dem Herbst hegten sie tatsächlich die Absicht, ein Lehrmädchen ins Haus zu nehmen, irgendein junges Ding, das Fröhlichkeit in das vom Schmerz der kinderlosen Gatten so traurig gestimmte Haus bringen sollte. Und es wurde sogleich alles beschlossen.

      »Willst du?« fragte Hubert.

      Hubertine erwiderte ohne Hast mit ihrer ruhigen Stimme:

      »Ich möchte schon.«

      Unverzüglich nahmen sie die Formalitäten in Angriff. Der Sticker ging zum Friedensrichter des nördlichen Stadtteils von Beaumont, um ihm die Begebenheit zu erzählen, zu Herrn Grandsire, einem Vetter seiner Frau, dem einzigen Verwandten, den sie noch besuchten; und dieser übernahm alles Weitere, schrieb an die Jugendfürsorge, wo Angélique dank der Registriernummer unschwer identifiziert wurde, erreichte, daß sie als Lehrmädchen bei den Huberts bleiben konnte, die im Rufe großer Ehrbarkeit standen. Als der Unterinspektor des Arrondissements kam, um das Büchlein auf den neuesten Stand zu bringen, schloß er mit dem neuen Brotherrn den Vertrag ab, dem zufolge dieser letztere das Kind milde behandeln, es säuberlich halten, es die Schule und die Pfarrkirche besuchen lassen und ihm ein Bett geben sollte, in dem es alleine schlafen konnte. Die Behörde dagegen verpflichtete sich, ihm der Vorschrift entsprechend eine Entschädigung zu zahlen und die Kleidung zu liefern.

      Innerhalb von zehn Tagen war alles geregelt. Angélique schlief oben neben dem Dachboden im Giebelzimmer, das auf den Garten hinausging; und sie hatte schon ihren ersten Unterricht im Sticken erhalten. Am Sonntagmorgen, ehe Hubertine mit ihr zur Messe ging, öffnete sie in ihrer Gegenwart die alte Truhe in der Werkstatt, in der sie das Feingold verwahrte. Sie hielt das Buch in der Hand, sie legte es hinten in eine Schublade und sagte:

      »Sieh, wo ich es hinlege, damit du es nehmen kannst, wenn du Lust hast, und damit du dich daran erinnerst.«

      Als Angélique an jenem Morgen die Kirche betrat, befand sie sich abermals unter dem SanktAgnesTor. Trügerisches Tauwetter war im Laufe der Woche eingetreten, dann hatte die Kälte wieder eingesetzt, und zwar so streng, daß der halbgeschmolzene Schnee auf den Skulpturen zu einer blühenden Pracht von Trauben und Nadeln erstarrt war. Alles war jetzt Eis, durchsichtige Gewänder mit gläserner Spitze, die die Jungfrauen umhüllten. Dorothea hielt eine Fackel, deren durchsichtiges herablaufendes Wachs ihr von den Händen tropfte; Cäcilia trug eine Silberkrone, von der glänzende Perlen herniederrieselten; Agatha trug auf ihrer von der Zange zerbissenen Brust einen kristallenen Harnisch. Und es war, als stünden die Szenen des Giebelfeldes, die kleinen Jungfrauen der Bogenrundungen so seit Jahrhunderten hinter den Glasscheiben und den Edelsteinen eines gigantischen Reliquienschreines. Agnes selber schleppte einen fürstlichen Mantel nach, der aus Licht gesponnen und mit Sternen bestickt war. Ihr Lamm hatte ein Fell aus Diamanten, ihr Palmenzweig war himmelsfarben geworden. Das ganze Tor funkelte in der Reinheit der großen Kälte.

      Angélique erinnerte sich der Nacht, die sie dort unter dem Schutz der Jungfrauen zugebracht hatte. Sie blickte hoch und lächelte ihnen zu.

       Kapitel II

      Beaumont besteht aus zwei völlig getrennten und unterschiedlichen Städten: Beaumontl˜Eglise auf der Höhe mit seiner alten Kathedrale aus dem zwölften Jahrhundert, seinem Bischofspalast, der erst aus dem siebzehnten Jahrhundert stammt, seinen kaum tausend Seelen, die zusammengedrängt, erstickt in der Tiefe seiner engen Straßen leben; und BeaumontlaVille unten am Hügel, am Ufer des Ligneul, eine ehemalige Vorstadt, welche die gedeihliche Entwicklung ihrer Spitzen und Batistfabriken reich gemacht und ausgedehnt hat, so daß sie fast zehntausend Einwohner zählt, weitläufige Plätze und eine hübsche Unterpräfektur nach neuzeitlichem Geschmack aufweist. Die beiden Stadtteile, der nördliche und der südliche, haben so fast nur auf dem Gebiete der Verwaltung Beziehungen zueinander. Obgleich Beaumontl˜Eglise nur etwa dreißig Meilen von Paris entfernt liegt, wohin man in zwei Stunden gelangen kann, scheint es noch in seine alten Festungswälle eingemauert zu sein, von denen jedoch nur noch drei Tore übrig sind. Eine seßhafte, besondere Bevölkerung lebt hier das Leben, das die Vorfahren seit fünfhundert Jahren von Generation zu Generation geführt haben.

      Die Kathedrale ist die Erklärung für alles, hat alles hervorgebracht und erhält alles. Sie ist die Mutter, die Königin, riesig inmitten des Häufleins niedriger Häuser, die gleich Kücken unter ihren steinernen Flügeln fröstelnd Schutz gesucht haben. Man lebt hier nur für die Kathedrale und durch die Kathedrale; die Handwerksbetriebe arbeiten nur, die Läden verkaufen nur, um sie zu ernähren, sie zu kleiden, sie zu unterhalten, sie und ihren Klerus; und wenn man einigen Bürgersleuten begegnet, so sind es die letzten Getreuen von längst entschwundenen Massen. Die Kathedrale schlägt wie ein Herz im Mittelpunkt, jede Straße ist eine ihrer Adern, die Stadt hat keinen anderen Atem als den ihren. Daher dieser Geist eines anderen Zeitalters, dieses fromme Erstarren in der Vergangenheit, diese klösterlich abgeschlossene Altstadt, die sie umgibt und nach einem alten Wohlgeruch von Frieden und Glauben duftet.

      Und von der ganzen geheimnisumwitterten Altstadt stand das Haus der Huberts, in dem Angélique von nun an leben sollte, der Kathedrale am nächsten, war mit ihr verwachsen. Die Genehmigung, dort zwischen zwei Strebepfeilern zu bauen, mußte einst von irgendeinem Pfarrer erteilt worden sein, dem daran lag, den Ahnen dieses Geschlechts von Stickern als Meßgewandmachermeister und Lieferanten für die Sakristei an sich zu binden. Auf der Südseite sperrte die riesenhafte Masse der Kirche den schmalen Garten ab: unten der Umgang der Seitenkapellen, deren Fenster auf die Beete hinausgingen, dann der schlanke Leib des von den Strebebögen gestützten Schiffes, dann das weitläufige, mit Bleiplatten gedeckte Dach. Niemals drang die Sonne in die Tiefe dieses Gartens, nur Efeu und Buchsbaum wuchsen hier kräftig; und dennoch war der ewige Schatten, der von der riesigen Chorhaube der Apsis fiel, hier sehr lieblich, ein andächtiger, grabesstiller und reiner Schatten, der gut roch. In das grünliche, von ruhiger Kühle erfüllte Zwielicht ließen die beiden Türme nur das

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