Der Traum. Emile Zola
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Fünf Jahre hindurch wuchs Angélique dort wie in einem Kloster, fern der Welt, heran. Sie kam nur sonntags aus dem Haus, um die Siebenuhrmesse zu hören, denn Hubertine hatte es durchgesetzt, sie nicht zur Schule schicken zu müssen, weil sie dort schlechten Umgang haben könnte. Diese alte und so beengte Behausung mit dem totenstillen Garten war ihre ganze Welt. Sie bewohnte unter dem Dach eine mit Kalk geweißte Kammer; morgens ging sie zum Frühstück in die Küche hinunter; zum Arbeiten stieg sie wieder in die Werkstatt im ersten Stock hinauf; und das waren nebst der steinernen Wendeltreppe in ihrem Türmchen die einzigen Winkel, in denen sie lebte, just die ehrwürdigen, von Geschlecht zu Geschlecht erhaltenen Winkel, denn niemals betrat sie das Schlafzimmer der Huberts und ging kaum einmal durch die gute Stube im Erdgeschoß, die beiden nach dem Geschmack der Zeit renovierten Räume. In der guten Stube hatte man die Deckenbalken weiß getüncht; ein Kranzgesims aus Palmenblättern mit einer Rosette in der Mitte schmückte die Decke; die Tapete mit großen gelben Blumen stammte aus der Zeit des ersten Kaiserreiches ebenso wie der Kamin aus weißem Marmor und die Mahagonimöbel, ein Tischchen, ein Ruhebett, vier mit Utrechter Samt bezogene Sessel. Wenn sie bei den seltenen Malen, die sie hierherkam, um die Auslage, einige in das Fenster gehängte Stickereien, auszuwechseln, einen Blick nach draußen warf, hatte sie immer denselben unveränderlichen Ausblick auf die auf das SanktAgnesTor zulaufende Straße: eine Kirchgängerin stieß den Türflügel auf, der sich geräuschlos wieder schloß, die Läden des Goldschmieds und des Wachshändlers gegenüber, in denen die heiligen Ziborien und die dicken Wachskerzen aufgereiht standen, wirkten immer leer. Und der klösterliche Friede, der in ganz Beaumontl˜Eglise herrschte, in der Rue Magloire hinter dem Bischofspalast, in der Grand˜Rue, in welche die Rue des Orfèvres mündete, auf dem Place du Cloître, wo die zwei Türme sich emporrecken, war in der schläfrigen Luft zu spüren, sank langsam mit dem bleichen Tageslicht auf die menschenleere Straße nieder.
Hubertine hatte es übernommen, Angéliques Bildung zu vervollständigen. Im übrigen vertrat sie die alte Meinung, daß eine Frau genug wisse, wenn sie richtig schreiben könne und die vier Grundrechnungsarten beherrsche. Doch sie hatte gegen den Widerwillen des Kindes zu kämpfen, das unaufmerksam war und aus dem Fenster guckte, obgleich das ein mittelmäßiges Vergnügen war, da dieses Fenster auf den Garten hinausging. Angélique begeisterte sich fast nur fürs Lesen; trotz der Diktate, die einer klassischen Textauswahl entnommen wurden, gelang es ihr nie, auch nur eine Seite einwandfrei zu schreiben; und doch hatte sie eine hübsche Schrift, eine schlanke und sichere Schrift, eine jener eigenwilligen Handschriften der großen Damen von einst. In den übrigen Fächern, Geographie, Geschichte, Rechnen, blieb sie völlig unwissend. Was sollte schon das Wissen? Es war ganz überflüssig. Später, als sie vor der Erstkommunion stand, lernte sie Wort für Wort ihren Katechismus in einem solchen Glaubenseifer auswendig, daß sie die Leute ob der Sicherheit ihres Gedächtnisses in Verwunderung setzte.
Im ersten Jahr waren die Huberts trotz ihrer Sanftmut oft verzweifelt. Angélique, die eine sehr geschickte Stickerin zu werden versprach, brachte sie durch plötzliche Launen, durch unerklärliche Anwandlungen von Trägheit nach Tagen vorbildlichen Fleißes aus der Fassung. Sie wurde plötzlich gleichgültig, tückisch, stahl Zucker und hatte dunkel umränderte Augen in ihrem roten Gesicht; und wenn man sie schalt, gab sie patzige Antworten. An manchen Tagen bekam sie, sobald man sie bändigen wollte, gar Anfälle von hochfahrender Tollheit, sie wurde steif, schlug mit Händen und Füßen um sich und war drauf und dran, zu beißen und alles zu zerreißen. Angstvoll wichen sie dann vor diesem kleinen Ungeheuer zurück, sie erschraken vor dem Teufel, der in ihr tobte. Wer war sie denn? Woher kam sie? Diese Findelkinder entstammen fast immer dem Laster und dem Verbrechen. Zweimal schon hatten sie beschlossen, das Kind der Jugendfürsorge zurückzugeben, so untröstlich waren sie und so sehr bedauerten sie, es überhaupt aufgenommen zu haben. Doch jedesmal endeten diese schrecklichen Auftritte, von denen das Haus noch hinterher zitterte, mit der gleichen Tränenflut, dem gleichen überspannten Reueausbruch, der das Kind in einer solchen Gier nach Züchtigung auf den Fußboden niederwarf, daß man ihm wohl verzeihen mußte.
Nach und nach gewann Hubertine Einfluß auf sie. Sie war mit der Einfalt ihrer Seele, ihrem starken und zugleich sanften, großherzigen Wesen, ihrer gesunden Vernunft, in ihrer vollkommenen Ausgewogenheit für diese Erziehung wie geschaffen. Sie lehrte sie den Verzicht und den Gehorsam, die beide sie der Leidenschaft und dem Stolz gegenüberstellte. Gehorchen, darauf kam es an im Leben. Man mußte Gott, den Eltern, den Vorgesetzten gehorchen, eine ganze Hierarchie der Ehrerbietung, außerhalb davon geriet das Leben aus der Bahn und nahm ein schlimmes Ende. Daher auch erlegte sie ihr, um sie Demut zu lehren, bei jeder Auflehnung als Buße irgendeine niedere Arbeit auf, das Geschirr abzuwaschen, die Küche zu wischen; und sie blieb bis zum Schluß dabei stehen, ließ Angélique über die Fliesen gebeugt arbeiten, die zuerst wütend war, sich aber schließlich besiegt gab. An diesem Kind beunruhigte sie vor allem die Leidenschaft, das Feuer und die Heftigkeit seiner Liebkosungen. Mehrmals hatte sie sie dabei überrascht, wie Angélique sich selbst die Hände küßte. Sie sah, wie Bilder sie geradezu in Fieber versetzten, kleine Kupferstiche von Heiligen, Jesusbildchen, die sie sammelte; dann fand sie sie eines Abends in Tränen aufgelöst, ohnmächtig, mit auf den Tisch gesunkenem Kopf, auf die Bilder gepreßtem Mund. Als sie ihr diese Bilder wegnahm, gab es wieder einen fürchterlichen Auftritt, Schreie, Tränen, als risse man ihr die Haut vom Leibe. Und von da an hielt Hubertine sie streng, duldete nicht mehr, daß sie sich gehenließ, überhäufte sie mit Arbeit, schuf Schweigen und Kälte um sie her, sowie sie fühlte, daß Angélique erregt wurde, irre Augen und glühende Wangen bekam.
Im übrigen hatte Hubertine eine Hilfe in dem Büchlein der Fürsorgebehörde entdeckt. Alle Vierteljahre, wenn der Steuereinnehmer seine Unterschrift hineinschrieb, war Angélique deswegen bis zum Abend düster gestimmt. Stechender Schmerz krampfte ihr Herz zusammen, wenn sie eine Goldspule aus der Truhe nahm und sie dabei das Buch zufällig erblickte. Und an einem Tage, an dem sie besonders wütend und ungezogen, ihr mit nichts beizukommen war und sie in der Schublade alles durcheinanderwühlte, war sie angesichts des kleinen Buches jäh wie vernichtet zusammengesunken. Schluchzen erstickte sie, sie hatte sich den Huberts zu Füßen geworfen, sich gedemütigt und gestammelt, sie hätten unrecht daran getan, sie von der Straße aufzulesen, und sie verdiene es nicht, ihr Brot zu essen. Seit diesem Tag hielt sie der Gedanke an das Büchlein oft von ihren Zornesausbrüchen zurück.
So erreichte Angélique ihr zwölftes Lebensjahr, das Alter für die Erstkommunion. Die so ruhige Umgebung, dieses im Schatten der Kathedrale schlummernde, von Weihrauch durchduftete, von Lobgesängen erschauernde kleine Haus begünstigte die langsame Veredelung dieses wilden Schößlings, der, man wußte nicht wo, herausgerissen und in den mystischen Boden des schmalen Gartens wieder eingepflanzt worden war; und dazu kam auch das geregelte Leben, das man dort führte, die tägliche Arbeit, die Weltfremdheit, in der man dort lebte, ohne daß auch nur ein Widerhall aus dem verschlafenen Stadtviertel hier hereindrang. Aber vor allem die Sanftmut erwuchs aus der großen Liebe der Huberts, die ein unheilbarer Selbstvorwurf gleichsam hatte an Umfang zunehmen lassen. Hubert verbrachte Tag um Tag mit dem Versuch, aus Hubertines Gedächtnis den Schimpf zu löschen, den er ihr angetan, als er sie gegen den Willen ihrer Mutter heiratete. Er hatte beim Tode ihres Kindes deutlich gefühlt, daß sie ihm die Schuld an dieser Strafe gab, und er bemühte sich, Verzeihung zu erlangen. Seit langem hatte sie ihm verziehen, betete sie ihn an. Er zweifelte zuweilen daran, dieser Zweifel verhärmte sein Leben. Um sicher zu sein, daß sich die Tote, die starrsinnige Mutter, unter der Erde hatte umstimmen lassen, hätte er gern noch ein Kind gehabt. Beider einziger Wunsch war dieses Kind der Vergebung, er lebte zu den Füßen seiner Frau in abgöttischer Liebe in einer jener ehelichen Leidenschaften, die glühend und keusch wie ein immerwährender Brautstand sind. So küßte er sie in Gegenwart des Lehrmädchens nicht einmal aufs Haar, nach zwanzig Ehejahren betrat er das gemeinsame Schlafzimmer nur verwirrt und erregt wie ein Jungvermählter am Hochzeitsabend. Verschwiegen war dieses Schlafzimmer mit seiner weißen