Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi

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Anna Karenina | Krieg und Frieden - Leo Tolstoi

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Reise fast nur von Ihnen gesprochen haben.« Bei diesen Worten ließ sie endlich ihre bisher zurückgedämmte Lebhaftigkeit in einem Lächeln zum Ausdruck kommen. »Aber meinen Bruder sehe ich trotz dem nicht.«

      »Rufe ihn doch, Alexei!« sagte die alte Gräfin.

      Wronski trat auf den Bahnsteig hinaus und rief: »Oblonski! Hier!«

      Aber Frau Karenina wartete nicht so lange, bis ihr Bruder herankam, sondern stieg, sobald sie ihn erblickte, mit festem, leichtem Schritte aus dem Wagen. Und sobald der Bruder zu ihr trat, legte sie mit einer Bewegung, von deren Entschiedenheit und Anmut Wronski überrascht war, ihm den linken Arm um den Hals, zog den Bruder rasch an sich und küßte ihn herzhaft. Wronski blickte unverwandt zu ihr hin und lächelte, ohne selbst recht zu wissen, worüber. Aber da erinnerte er sich, daß seine Mutter auf ihn wartete, und stieg wieder in den Wagen.

      »Nicht wahr, eine allerliebste Frau?« sagte die Gräfin mit Bezug auf Frau Karenina. »Ihr Mann hat sie zu mir in dieses Abteil gebracht, und ich habe meine rechte Freude an ihr gehabt. Auf der ganzen Fahrt haben wir uns miteinander unterhalten. Nun, und du, wie man hört ... vous filez le parfait amour. Tant mieux, mon cher, tant mieux.«

      »Ich weiß nicht, worauf Sie anspielen, maman«, antwortete der Sohn in trockenem Tone. »Aber wenn's Ihnen recht ist, maman, wollen wir jetzt gehen.«

      Frau Karenina kam wieder in den Wagen herein, um von der Gräfin Abschied zu nehmen.

      »Sehen Sie wohl, Gräfin, Sie haben jetzt Ihren Sohn gefunden und ich meinen Bruder«, sagte sie heiter. »Und mein Vorrat an Geschichten war auch vollständig erschöpft; weiter hätte ich nichts mehr zu erzählen gehabt.«

      »Oh, nicht doch!« erwiderte die Gräfin und faßte sie bei der Hand. »Mit Ihnen könnte ich rund um die Welt reisen und würde mich nicht langweilen. Sie gehören zu jenen liebenswürdigen Frauen, mit denen es sich angenehm bald einmal plaudern, bald einmal schweigen läßt. Und über Ihren Sohn machen Sie sich nur, bitte, keine Gedanken; immer bei einem Kinde zu bleiben, ist ja doch nicht möglich.«

      Frau Karenina stand da, ohne sich zu bewegen, in sehr gerader Haltung; ihre Augen lächelten.

      »Anna Arkadjewna«, bemerkte die Gräfin erklärend zu ihrem Sohne, »hat ein Söhnchen, ich glaube von acht Jahren; sie hat sich bisher noch nie von ihm getrennt und grämt sich nun darüber, daß sie ihn verlassen hat.«

      »Ja, die Gräfin und ich haben die ganze Zeit über von unseren Söhnen gesprochen, sie von dem ihrigen und ich von dem meinigen«, sagte Frau Karenina, und wieder erhellte ein Lächeln ihr Gesicht, ein freundliches Lächeln, das Wronski galt.

      »Das hat Sie höchstwahrscheinlich sehr gelangweilt«, antwortete er, indem er diesen Ball der Koketterie, den sie ihm zuwarf, sofort im Fluge auffing. Aber sie hatte offenbar keine Lust, das Gespräch in diesem Tone fortzusetzen, und wandte sich wieder der alten Gräfin zu:

      »Ich danke Ihnen sehr. Die Reise ist mir so schnell vergangen, daß ich es gar nicht gemerkt habe. Auf Wiedersehen, Gräfin!«

      »Leben Sie wohl, meine Beste!« erwiderte die Gräfin. »Lassen Sie mich Ihr liebes Gesichtchen küssen. Als alte Frau sage ich Ihnen einfach und geradezu, daß ich Sie sehr liebgewonnen habe.«

      Wie herkömmlich auch diese Redensart war, Frau Karenina hielt sie offenbar für aufrichtig gemeint und freute sich herzlich darüber. Sie errötete, beugte sich ein wenig hinab und bot ihre Wangen den Lippen der Gräfin dar; dann richtete sie sich wieder auf und gab mit jenem Lächeln, das bei ihr so oft zwischen Lippen und Augen hin und her wanderte, Wronski die Hand. Er drückte diese kleine Hand und empfand mit innigem Vergnügen, wie einen besonderen Genuß, den kräftigen Druck, mit dem sie fest und ungezwungen die seine schüttelte. Dann verließ sie das Abteil mit dem raschen Gange, der ihren ziemlich vollen Körper mit so erstaunlicher Leichtigkeit trug.

      »Eine allerliebste Frau!« sagte die alte Dame.

      Dasselbe dachte auch ihr Sohn. Er folgte ihr mit den Augen, bis ihre anmutige Gestalt verschwunden war, und sein Gesicht behielt den lächelnden Ausdruck bei. Durch das Fenster sah er noch, wie sie zu ihrem Bruder trat, ihre Hand auf seinen Arm legte und ein lebhaftes Gespräch mit ihm begann, das offenbar auf ihn, Wronski, keinerlei Bezug hatte, und das verdroß ihn.

      »Also, maman, Sie sind ganz wohlauf?« fragte er noch einmal, zu seiner Mutter gewendet.

      »Vollkommen, es geht alles vorzüglich. Alexander war sehr liebenswürdig. Und Warja ist sehr hübsch geworden. Sie hat etwas überaus Interessantes.«

      Damit begann sie wieder von den Dingen zu erzählen, die sie am meisten interessierten: von der Taufe ihres Enkels, zu der sie nach Petersburg gereist war, und von der außerordentlich gnädigen Gesinnung des Kaisers gegen ihren ältesten Sohn.

      »Da ist auch Lawrenti«, sagte Wronski, durch das Fenster hinausblickend. »Wenn es Ihnen gefällig ist, wollen wir jetzt gehen.«

      Der alte Haushofmeister, der die Gräfin auf der Reise begleitet hatte, erschien im Wagen mit der Meldung, daß alles bereit sei, und die Gräfin erhob sich, um zu gehen.

      »Gehen wir!« sagte Wronski. »Jetzt ist es nicht mehr so voll auf dem Bahnsteig.«

      Das Mädchen nahm die Reisetasche und das Hündchen, der Haushofmeister und ein Gepäckträger das übrige Handgepäck. Wronski reichte der Mutter den Arm; aber als sie eben aus dem Wagen gestiegen waren, liefen plötzlich einige Männer mit erschrockenen Gesichtern an ihnen vorbei, darunter auch der Stationsvorsteher mit seiner grellfarbigen Mütze. Offenbar war etwas Ungewöhnliches vorgefallen. Alles lief vom Zuge weg nach hinten.

      »Was gibt es? – Was ist los? – Wo? – Er ist umgestoßen worden. – Überfahren!« wurde unter den Vorübereilenden gerufen.

      Stepan Arkadjewitsch und seine Schwester, die ihn untergefaßt hatte, kamen ebenfalls mit erschrockenen Gesichtern wieder zurück und blieben, um aus dem Gedränge herauszukommen, an der Tür des Wagens stehen.

      Die Damen stiegen wieder in den Wagen ein; Wronski und Stepan Arkadjewitsch aber folgten dem Menschenschwarm, um Näheres über den Unfall zu erfahren.

      Ein Bahnwärter hatte, mochte er nun betrunken oder wegen der starken Kälte zu sehr eingemummt gewesen sein, einen Zug, der beim Rangieren zurückgeschoben wurde, nicht gehört und war zermalmt worden.

      Noch ehe die beiden Herren zurückkehrten, erfuhren die Damen diese Einzelheiten durch den Haushofmeister.

      Oblonski und Wronski hatten beide den entstellten Leichnam gesehen. Oblonski litt offenbar sehr unter diesem Eindrucke. Er hatte die Stirn gerunzelt und schien dem Weinen nahe zu sein.

      »Ach, wie schrecklich! Ach, Anna, wenn du das gesehen hättest! Ach, wie schrecklich!« rief er einmal über das andere.

      Wronski schwieg; sein hübsches Gesicht war ernst, aber vollkommen ruhig.

      »Ach, wenn Sie das gesehen hätten, Gräfin!« redete Stepan Arkadjewitsch weiter. »Auch seine Frau ist dabei. – Es war schrecklich, sie anzusehen. Sie warf sich über den Leichnam hin. Die Leute sagten, der Mann wäre der einzige Ernährer einer sehr großen Familie gewesen. Ja, es ist schrecklich!«

      »Läßt sich denn nichts für die Frau tun?« fragte Frau Karenina flüsternd in heftiger Erregung.

      Wronski

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