Ein Drama in Livland. Jules Verne

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Ein Drama in Livland - Jules Verne

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langes Fasten desto wilder gewordenen Wölfe, die jetzt gierig auf die Beute waren, welche sie schon fast im Bereich ihrer Zähne wußten.

      Der Flüchtling drehte sich um, den Revolver in der einen, den Stock in der andern Hand. Besser, er feuerte nicht, solange mit dem Stocke auszukommen war, um nicht die Aufmerksamkeit etwa in der Nähe befindlicher Grenzwächter zu erregen.

      Der Mann hatte nach Befreiung seiner Arme aus den Falten des Kaftans eine Stellung zur Abwehr eingenommen. Mit dem Stocke umherschlagend, hielt er sich zunächst von den Wölfen die vom Leibe, die ihm am ärgsten zusetzten. Einen davon, der ihm schon an den Hals gesprungen war, streckte ein kräftiger Stockhieb zu Boden.

      Für ein halbes Dutzend Wölfe genügte das freilich nicht, ihnen Furcht einzujagen; es waren ihrer überhaupt zu viele, einen nach dem andern abzutun, ohne vom Revolver Gebrauch zu machen. Obendrein ging der Stock nach einem wuchtigen, nach dem Kopfe eines andern Tieres geführten Schlage in seiner Hand, die ihn so erfolgreich benutzte, leider in Stücke.

      Der Mann suchte sein Heil nochmals in der Flucht, blieb aber, da die Wölfe ihm nachsprangen, wieder stehen und gab nun vier Schüsse auf die Angreifer ab.

      Tödlich verwundet brachen zwei der Bestien auf dem von ihrem Blute geröteten Eise zusammen; zwei Kugeln waren aber fehl gegangen, dennoch sprangen die erschreckten andern Wölfe wohl um zwanzig Schritte weit zurück.

      Der Flüchtling hatte keine Zeit, den Revolver aufs neue zu laden. Die Bande kam schon wieder zurück, bereit, sich auf den Unglücklichen zu stürzen. Nachdem jener zweihundert Schritte weit entflohen war, hatten ihn die Tiere wieder eingeholt und schlugen die Zähne in die Schöße seines Kaftans; abgerissene Stücke davon hingen ihnen im Maule… er fühlte ihren glühenden Atem. Machte er einen Fehltritt, so wars um ihn geschehen. Erheben konnte er sich dann nicht wieder und wurde von den wütenden Bestien zerfleischt.

      War hiermit wirklich seine letzte Stunde gekommen? Nach so vielen Mühen und Strapazen, so vielen Gefahren, nach dem Boden der Heimat zurückzukehren, und es sollte von ihm nur ein wenig Gebein darauf übrig bleiben?

      Beim ersten Tagesschimmer zeigte sich endlich das Ende des Sees. Der Regen hatte aufgehört und das Land ringsumher war in leichten Dunst gehüllt. Die Wölfe stürzten sich auf ihr Opfer, das sie mit Kolbenschlägen abwehrte, während sie auf ihn einbissen und ihn mit den Tatzen packten.

      Plötzlich stieß sich der Mann an eine Art Leiter… wohin diese führte, das war jetzt gleichgültig. Konnte er nur deren Sprossen erklimmen, so war es den Wölfen unmöglich, ihm nachzuklettern, und er befände sich vorläufig in Sicherheit. Die Leiter stieg ein wenig schräg vom Boden auf, doch reichte sie merkwürdigerweise nicht ganz herunter, so als ob sie aufgehängt wäre, und der Nebel verhinderte zu sehen, woran sie oben anlag.

      Der Flüchtling packte die Leiterbäume und schwang sich auf die untersten Sprossen, während die Wölfe sich zum letzten Male auf ihn stürzten und ihre Spitzzähne in seine Stiefel bohrten, deren Leder dabei zerriß.

      Die Leiter knarrte und krachte unter der Last des Mannes, sie schwankte bei seiner Bemühung, sie zu erklettern. Sollte sie gar umschlagen? Dann würde er dennoch zerrissen… von den Tieren verzehrt…

      Doch nein: die Leiter hielt aus; er erkletterte deren oberste Sprossen mit der Gewandtheit eines Marsgastes, der die Webeleinen der Wanten ersteigt.

      Oben ragte das Ende eines dicken Balkens hervor, der einer Radnabe ähnelte und worauf man rittlings sitzen konnte.

      Der Mann war damit außer dem Angriffsbereich der Wölfe, die unter der Leiter umhersprangen und sich mit furchtbarem Heulen erschöpften.

      Zweites Kapitel.

      Ein Slawe für den anderen.

      Der Flüchtling befand sich vorläufig in Sicherheit. Wölfe können nicht ebenso klettern wie Bären, die in den livländischen Wäldern übrigens nicht weniger zahlreich vorkommen und sehr gefährlich sind. Er brauchte ja aber nicht eher hinunterzusteigen, als bis sich die Tiere zurückgezogen hatten, was jedenfalls mit Tagesanbruch geschehen würde.

      Jetzt fragte er sich auch, warum denn die »Leiter« an diesem Orte angebracht war und woran sie mit ihrem oberen Ende festsaß.

      Wie erwähnt, war das an einer Nabe oder einem kleinen Rade, von wo noch drei ähnliche Leitern hinausragten… in Wahrheit, zusammen die vier Flügel einer Mühle, die sich unweit von dem Abflusse der Embach aus dem See auf einem kleinen Erdhaufen erhob. Glücklicherweise war die Mühle nicht in Gang gewesen, als der Flüchtling einen ihrer Flügel erkletterte.

      Freilich lag die Möglichkeit vor, daß die Mühle beim ersten Tagesschein in Betrieb gesetzt würde, wenn sich einigermaßen Wind erhob. Dann mußte es schwierig werden, sich auf ihrer sich drehenden Welle zu erhalten, und außerdem würde der Müller, wenn er seine Leinwand ausgespannt und die Mühle mit dem äußeren Hebelbaum richtig gedreht hatte, den an der Kreuzungsstelle der Flügel sitzenden Mann bemerken. Einen Abstieg konnte der Flüchtling aber trotzdem nicht wagen.

      Noch schwärmten die Wölfe um den Erdhaufen und drohten mit ihrem Geheul Leute in einigen nahe liegenden Häuschen zu wecken.

      Hier gab es nur einen Ausweg: ins Innere der Mühle einzudringen, sich für den Tag über zu verstecken, wenn – was sehr wahrscheinlich war – der Müller sich nicht darin aufhielt, und den Abend abzuwarten, um dann weiter zu wandern.

      Der Mann schwang sich deshalb nach dem Dache hinauf und erreichte glücklich die Luke für den Hebelbaum, der schräg hinunter fast bis zur Erde verlief.

      Die Mühle war, wie hierzulande allgemein, mit einer Art umgedrehter Schale, oder vielmehr mit einer Art Mütze ohne Rand bedeckt. Dieses Dach rollte auf einer Reihe von Laufrädchen im Innern, mit deren Hilfe die ganze Einrichtung leicht in die gewünschte Lage gebracht werden konnte. Hieraus geht hervor, daß das hölzerne Hauptbauwerk unbeweglich auf dem Erdboden ruhte und nicht auf einem Zapfen in der Mitte, wie die meisten Mühlen in Holland. Zwei offene, einander gegenüberstehende Türen vermittelten den Zutritt.

      Durch die Luke konnte der Flüchtling trotz ihrer Enge ohne besondere Schwierigkeit und ohne Geräusch hineinschlüpfen. Im Innern lag hier eine Art Dachkammer, durch die wagrecht der Wellbaum verlief, der wieder durch ein Zahngetriebe mit der senkrechten Welle in Verbindung stand, durch die das eigentliche Mühlwerk im unteren Raume in Bewegung gesetzt wurde.

      Die Stille war hier ebenso tief wie die Finsternis. Daß sich in der untern Abteilung zu dieser Stunde niemand befände, war als ziemlich gewiß anzunehmen. Eine steile, an der Plankenwand hin verlaufende Treppe führte nach diesem unteren Raume, der als Fußboden nur den Erdhaufen hatte. Die Vorsicht gebot jedoch, die Dachkammer nicht zu verlassen. Erst essen, dann schlafen, das waren die zwei dringendsten Bedürfnisse, die der Flüchtling nicht mehr lange unbefriedigt lassen konnte. Er verzehrte also den Rest seines Mundvorrates, was ihn freilich nötigte, sich im Laufe der nächsten Wanderung neuen zu beschaffen. Wo und wie… das würde sich ja finden.

      Gegen sieben Uhr früh war der Nebel aufgestiegen und die Umgebung der Mühle nun bequem zu erkennen. Beim Herausbiegen aus der Luke sah man da, zur Rechten eine von der Schneeschmelze mit Tümpeln bedeckte Ebene, durch die nach Westen zu eine endlose Straße mit dicht beieinander liegenden Baumstämmen verlief, denn sie durchschnitt eine Sumpfstrecke, über der ganze Völker von Wasservögeln flatterten. Zur Linken dehnte sich der – bis auf die Mündungsstelle der Embach – noch mit Eis bedeckte See aus.

      Da und dort ragten einzelne Fichten

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