Ein Drama in Livland. Jules Verne
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Eine kleine, mit Schirm versehene Petroleumlampe warf nur ein mäßiges Licht auf den Tisch in der Mitte des Raumes. Auf einem Nebentischchen mit Marmorplatte brodelte der beliebte Samowar. Vier Tassen deuteten darauf hin, daß hier vier Personen Tee trinken wollten. Die vierte war aber noch nicht erschienen, obgleich man schon gegen vierzig Minuten auf sie wartete.
»Dimitri fehlt noch,« bemerkte einer der Anwesenden und begab sich nach dem Doppelfenster, das sich nach der Straße zu öffnete.
Dieser, ein Mann von einigen fünfzig Jahren, war der russische Arzt Hamine, ein treuer Freund des Hauses. Seit den vierundzwanzig Jahren, wo er in Riga praktizierte, war er sehr gesucht wegen seiner Kenntnisse, sehr geschätzt wegen seines einnehmenden Wesens, freilich auch stark beneidet von Kollegen, und man weiß ja, bis zu welcher Gehässigkeit sich – in Rußland wie anderwärts – der Neid von Berufsgenossen erniedrigen kann.
»Ja… es wird bald acht schlagen, antwortete ein anderer mit einem Blick auf die zwischen zwei Fenstern hängende Gewichtsuhr. Nicolef hat aber eine 'Gnaden-Viertelstunde', wie wir in Frankreich zu sagen pflegen, und es ist la bekannt, daß eine solche Viertelstunde allemal mehr als fünfzehn Minuten hat.«
Der, der diese Bemerkung gemacht hatte, war ein Herr Delaporte, der französische Konsul in Riga. Etwa vierzig Jahre alt, seit zehn Jahren in dieser Stadt wohnhaft, hatte er sich durch sein tadelloses Auftreten und sein dienstwilliges Wesen die allgemeine Achtung erworben.
»Mein Vater hat am anderen Ende der Stadt eine Stunde zu geben gehabt, ließ sich da eine dritte Person vernehmen. Der Weg ist lang und bei dem abscheulichen Wetter mit Regenfall und Schneewehen gewiß auch beschwerlich.
Er wird wohl vor Kälte halb erstarrt heimkommen.
– O, rief der Doktor Hamine, der Ofen schnaubt und prasselt ja wie ein Beamter bei der Audienz!… Hier im Zimmer ist's hübsch warm… der Samowar macht's dem Ofen nach… Nur ein paar Tassen Tee, und Dimitri wird sein vollgeschüttelt Maß innerer und äußerer Wärme wieder haben!… Keine Angst, liebe Ilka! Und sollte dein Vater einen Arzt nötig haben, so ist der ja nicht weit entfernt und obendrein einer seiner besten Freunde.
– Das wissen wir, lieber Herr Doktor!« antwortete das junge Mädchen lächelnd.
Ilka Nicolef zählte vierundzwanzig Jahre. Das Musterbild einer Slawin, unterschied sie sich wesentlich von den anderen Mädchen Rigas, die germanischer Abkunft waren, einen gar zu rosigen Teint, zu blaue Augen mit fast ausdruckslosem Blick und überhaupt etwas phlegmatisches Wesen hatten. Die braunhaarige Ilka dagegen zeigte einen warmen, doch nicht zu tief gefärbten Teint, eine große Gestalt, edle Gesichtszüge mit etwas strengem Ausdruck, der jedoch durch einen sanften Blick gemildert wurde, solange sie nicht gerade einem traurigen Gedanken nachhing. Ernst und überlegend, wenig kokett in ihrem Anzug, sondern stets geschmackvoll einfach gekleidet, erschien sie als vollendeter Typus der jungen Livländerin von russischer Herkunft.
Ilka war nicht das einzige Kind des schon seit zehn Jahren verwitweten Nicoles. Ihr Bruder Jean, der eben ins achtzehnte Jahr eintrat, hielt sich Studien halber an der Universität in Dorpat auf. Sie hatte an ihm in seiner Kindheit Mutterstelle vertreten, und bei welchem weiblichen Wesen hätte er, nach dem Ableben derjenigen, die nicht mehr war, mehr Ergebenheit, mehr Güte und mehr Opferfreudigkeit finden können!… Dank ihrer weisen Sparsamkeit hatte der junge Student den etwas teuern Unterricht fern vom Vaterhause genießen können.
Dimitri Nicolefs Einnahmen bestanden nämlich ausschließlich aus dem Ertrag der Unterrichtsstunden, die er in der eigenen Wohnung oder in der Stadt erteilte. Ein kenntnisreicher und sehr geschätzter Privatlehrer der Mathematik und der Physik, war er leider ohne Vermögen. Dieser Beruf liefert ja keine goldene Ernte… in Rußland ebensowenig wie anderwärts. Hätte Dimitri Nicolef Reichtümer durch die allgemeine Hochschätzung, die er genoß, erwerben können, so wäre er freilich Millionär, und zwar einer der reichsten in Riga gewesen, wo seine Ehrbarkeit ihm unter seinen Mitbürgern – natürlich unter denen slawischer Rasse – die erste Rangstellung sicherte. Hierüber jeden Zweifel zu beseitigen, wird es genügen, dem Gespräch zwischen dem Doktor Hamine und dem Konsul zu lauschen, als diese die Heimkehr des Lehrers erwarteten. Das Gespräch wurde in russischer Sprache geführt, die Delaporte ebenso vollkommen beherrschte, wie die meisten gebildeten Russen die französische.
»Nun, Doktor, sagte der Konsul, Sie stehen jetzt hier am Anfange einer Bewegung, die die politischen Verhältnisse Esthlands, Livlands und Kurlands wesentlich umgestalten wird. Die esthländischen Zeitungen weisen mit allem Zauber ihrer arischen Mundart deutlich genug darauf hin.
– Diese Entwicklung der Dinge wird nur schrittweise vor sich gehen, erwiderte der Arzt, es wird aber keineswegs zu zeitig sein, wenn die Verwaltung und das Stadtregiment den deutschen Körperschaften entwunden sein werden. Ist's denn kein unbegreiflicher Zustand, daß noch immer die Deutschen die politische Führung unserer Provinzen in der Hand haben?
– Ja… leider; doch wenn das auch nicht mehr der Fall ist, bemerkte Ilka, bleiben sie wahrscheinlich allmächtig durch die Macht des Geldes, da sie fast allein den Grund und Boden besitzen und wichtige Stellungen innehaben.
– Die Stellen, meinte Delaporte, könnte man ihnen ja nehmen; bezüglich des Grundbesitzes dürfte das schwieriger, wenn nicht unmöglich sein. In Livland allein sind die Deutschen die Eigentümer des größten Teiles alles Ackerlandes… mindestens einer Bodenfläche von viermalhunderttausend Hektaren.«
Das ist tatsächlich richtig. In den baltischen Provinzen sind die Edelleute, die Vornehmen so gut wie die Kleinbürger und die Kaufleute, fast ohne Ausnahme teutonischen Stammes. Doch obwohl die übrige Bevölkerung die Religion dieser ursprünglich katholischen und später protestantischen Deutschen angenommen hat, kann von deren Germanisierung eigentlich nicht die Rede sein. Die Esthen, das Brudervolk der Finnen, und die fast alle als Ackerbauer lebenden Letten verbergen in keiner Weise ihren Rassenhaß gegen die, die ihre Herren sind, und in Reval, Dorpat und St. Petersburg treten viele Zeitungen warm für ihre Rechte ein.
»Bei einem Kampfe zwischen den Russen slawischen und denen deutschen Ursprungs, fuhr der Konsul fort, weiß ich freilich nicht recht, wer zuletzt siegen wird.
– Überlassen wir das dem Kaiser, antwortete Doktor Hamine, der ist ein Vollblutslawe und wird das fremde Element in unseren Provinzen schon zurückzudrängen wissen.
– O, möchte ihm das gelingen! fiel das junge Mädchen mit ernster Stimme ein. Seit sieben Jahrhunderten, seit der Eroberung, haben unsere Bauern, unsere Arbeit dem Einfluß der Sieger Widerstand geleistet, und diese sind eigentlich außerhalb des Landes geblieben!
– Und dein Vater, liebe Ilka, hat jedenfalls tapfer für unsere Sache gekämpft; er steht mit vollem Rechte an der Spitze der slawischen Partei…
– Hat sich deshalb aber auch recht schlimme Feinde erworben! meinte Delaporte.
– Ja freilich, antwortete der Arzt, unter anderen die Brüder Johausen, die reichen Bankiers, die vor Wut bersten werden, sobald Dimitri Nicolef ihnen die Leitung des Rigaer Gemeinwesens abgerungen hat. Übrigens zählt unsere Stadt nur vierundvierzigtausend Deutsche gegen sechsundzwanzigtausend Russen und vierundzwanzigtausend Letten. Die Slawen sind also in der Mehrheit und sie werden für Nicolef eintreten.
– Einen solchen Ehrgeiz hegt mein Vater nicht, bemerkte Ilka hierzu. Falls die Slawen ihn mit sich fortreißen, wenn sie