Schöne Ungeheuer. Wilfried Steiner

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Schöne Ungeheuer - Wilfried Steiner

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sich Bücher und DVDs stapeln, überall verstreute USB-Sticks – so ungefähr?“ Es klang belustigt, aber nicht geringschätzig.

      „Das trifft es ziemlich genau“, sagte ich leise.

      „Machen Sie sich keine Sorgen, das kommt schon. Wenn ich an mein erstes Buch denke, da war es auch so. Beinahe hätte ich das gesamte Material vernichtet, bevor ich den ersten Satz formuliert habe. Trösten Sie sich: Beim zweiten Buch wird’s besser.“

      „Ich habe es gelesen“, sagte ich.

      „Was?“

      „Ihr erstes Buch. Worauf wir hoffen. Über die Entdeckungen der Zukunft.“

      „Ach, wirklich?“ In diesem Augenblick sah ich zum ersten Mal, wie sie mit Eleganz ihre rechte Braue hochzog. Man kennt das ja, in den Gesichtern von Menschen, die Zweifel, Verwunderung und Überlegenheit zum Ausdruck bringen wollen. David Niven, wenn ihn etwas belustigte, zum Beispiel. Bei Jelena war es anders. Zwar strahlte diese Bewegung der Braue auch eine gewisse Dosis Spott aus, doch ohne jede Spur von Verachtung oder Selbstgewissheit. Ihr Gesicht war dabei offen und neugierig. Es kam mir vor, als würde ich in das Antlitz eines Mädchens blicken, das die Wunder der Erde bestaunt.

      „Und?“, fragte sie.

      „Ich muss gestehen, ich habe nur Teile verstanden. Es hat mir deutlich gemacht, wie wenig ich weiß.“

      „Dann haben Sie es doch verstanden“, sagte sie. „Es ist ein Buch darüber, wie wenig wir wissen. Viele Theorien, wenig Beweise.“

      „Wie bei Tunguska“, sagte ich ohne nachzudenken.

      Sie klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Kinn, schob ihre feinen, weißglatten Hände auf der Tischplatte ineinander.

      „Da ist es noch schlimmer. Hundert Hypothesen, kein einziger Beleg.“

      „Sie haben sich mit dem Ereignis beschäftigt?“, fragte ich vorsichtig.

      Ihr erstes Lachen.

      „Ich habe den unstillbaren Drang, mich mit allem zu beschäftigen, was unser Fachgebiet betrifft. Das wird mir noch einmal zum Verhängnis werden.“

      Ihr Lachen erstarb, etwas wie ein Schleier legte sich über ihre Augen.

      „Oder ist es schon geworden.“

      „Wie meinen Sie das?“ – Fragen wie diese durfte ich jetzt nicht stellen. Es fiel mir nicht leicht. Sie wandte sich ab, ich sah den Flaum ihrer Nackenhaare. Für Bruchteile von Sekunden fühlte ich etwas Weiches auf meinen Fingerkuppen. Gibt es Halluzinationen des Tastsinns?

      Sie wartete. Vielleicht schon wieder eine Prüfung. Von mir kam kein Wort.

      Da bewegte sich ihr Kopf, sackte kurz nach unten, der Hörer fiel auf den Tisch, sie schreckte hoch, wie aus dem Schlaf gerissen, rieb sich die Augen und hielt sich die Sprechmuschel wieder vor den Mund.

      „Wo waren wir?“

      Bei Ihrem Verhängnis, wollte ich antworten. Ich hatte Glück, meine Vernunft war stärker.

      „Im Jahr 1908“, sagte ich stattdessen.

      „Ja, das Ereignis!“ Sie lächelte, wieder ganz bei sich selbst. „Was ist Ihre Lieblingserklärung?“

      „Wie meinen Sie das?“ Nun passte der Satz.

      Jelena strich mit der Spitze des Zeigefingers über ihre Nasenflügel, erst links, dann rechts, eine Geste, die ich noch nicht deuten konnte.

      „Ganz einfach: Es geht um eine Naturkatastrophe, geschehen vor mehr als hundert Jahren, es gibt über hundert Thesen, und keine lässt sich beweisen. Wenn Sie sich damit beschäftigen, müssen Sie einen Favoriten haben.“

      „Na ja, wichtig ist doch, welche Hypothese die wahrscheinlichste –“

      „Langweilen Sie mich nicht!“ Das kam scharf, unvermittelt. Eine Sentenz, in Marmor gemeißelt. Das Motto ihres Lebens. Der Spruch auf ihrem Grabstein, nach vielen elenden Jahren im –

      „Ich warte.“

      „Sie verachten die Wahrscheinlichkeit?“

      „Nein. Sie macht mich nur müde.“

      „Was weckt Sie auf?“

      „Leidenschaft vielleicht. Obwohl das ein zu großes Wort ist. Besessenheit gefällt mir besser.“

      „Damit kann ich, fürchte ich, nicht dienen. Es ist mehr ein Hob–“

      Erschrocken hielt ich mir die Hand vor den Mund.

      „Sie sehen nicht aus wie jemand, der Steckenpferde reitet.“

      „Sie haben recht“, sagte ich. „Die wahrscheinlichste Lösung ist langweilig. Ein Meteorit oder Komet, der in fünf bis zehn Kilometern Höhe über der Taiga explodiert. Na ja.“

      „Und ebenso unbeweisbar“, sagte sie feurig. „Mein Urgroßvater –“ Sie brach ab.

      Ich richtete mich auf, jetzt war ich hellwach.

      „Wollen Sie damit andeuten, Ihr Urgroßvater war ein … ein Augenzeuge?“

      Jelena seufzte.

      „Ich rede zu viel. Noch so eine gefährliche Eigenschaft. Aber ja, er hat es gesehen. Und gehört. Er war Rentierhirte, unweit von Wanawara.“

      „Das ist ja unglaublich“, rief ich. „Was hat er erzählt?“

      „Das, was die meisten Zeugen berichten: ein Feuerball, der über den Himmel zieht, ein Donnergrollen in der Luft, zersplitternde Fensterscheiben, plötzliche Hitze. So hab ich es von seinem Sohn gehört. Aber da war noch etwas.“

      „Was?“

      Sie schwieg kurz und genoss meine Ungeduld.

      „Mein Urgroßvater hat gesagt, er habe ohne Zweifel einen Aufprall gehört. Etwas unerhört Großes und Schweres sei auf der Erde aufgeschlagen. Der Boden habe minutenlang gebebt. Und dann sei eine Rauchsäule in den Himmel gestiegen.“

      „Also doch ein Impakt!“ Das war eindeutig zu laut für einen Steckenpferdreiter.

      Die anderen Insassen und Besucher drehten mir ihre Köpfe zu, der Wachebeamte blickte von seinem Rätsel hoch.

      Jelenas Handbewegung deutete an, dass es besser wäre, meine Stimme zu dämpfen.

      Leise sagte ich: „Das klingt nicht nach einer Explosion in großer Höhe, oder?“

      „Eher nicht.“ Da war ein ganz feines, kaum merkbares Lächeln auf ihren Lippen.

      „Verraten Sie mir jetzt Ihre Lieblingstheorie?“

      „Grundsätzlich schätze ich jene Thesen am meisten, die den Tatsachen am ehesten entsprechen. Aber wenn Sie die Wahrheit langweilt, muss ich wohl andere Prioritäten setzen –“

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