C'est la vie. Rebekka Haefeli
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Frau Ahmadi, einer weiteren Patientin, geht es sehr schlecht an diesem sonnigen Dienstag. Das Leben der Mutter von drei erwachsenen Töchtern hängt an einem seidenen Faden. Frau Ahmadi ist Muslimin und stammt wie ihr Mann ursprünglich aus einem Land im Nahen Osten; die Familie lebt aber schon lange in der Schweiz. Die Fünfzigjährige leidet unter einem metastasierenden Mammakarzinom; Brustkrebs, der Metastasen im Gehirn und in der Lunge gebildet hat. «Die Patientin möchte noch sehr viel und hängt am Leben», berichtet die Oberärztin Hannah Schlau während der Vorbesprechung der Visite. Schlaus Aufgabe wird es sein, am Nachmittag das Gespräch mit der Familie am Runden Tisch zu leiten. «Die Familie weiss über die neusten diagnostischen Befunde bereits Bescheid», informiert sie die Kollegen. «Ich habe versucht, sie darauf vorzubereiten, dass es abwärts geht, auch wenn wir alles machen, was wir noch tun können.»
Die verantwortliche Pflegefachfrau erzählt, die Patientin sei heute schläfriger und müder als noch am Vortag. Der Mann und die Töchter, die sich am Bett von Frau Ahmadi abwechseln, hätten auch den Eindruck, sie sei deutlich verwirrter. Weil die Patientin wegen starker Schmerzen mit Morphium behandelt wird, ist allerdings schwierig zu beurteilen, ob die Verwirrtheit auf die Erkrankung oder auf die Medikamente zurückzuführen ist.
Die Pflegefachfrau wirkt besorgt. «Was passiert, wenn sie plötzlich ‹abstellt›?», fragt sie und meint damit, dass Frau Ahmadi einen plötzlichen Herzstillstand erleiden könnte. Die Patientin und ihre Familie haben sich bisher dafür ausgesprochen, in jedem Fall eine Reanimation in Anspruch zu nehmen. «Ich möchte das nochmals ansprechen», nimmt Oberärztin Schlau das Thema in der Vorbesprechung auf. «Eine Reanimation ist kein schöner Anblick und kann für alle traumatisierend sein.» Nicht selten brechen bei der Herzmassage Rippen, und wenn das Gehirn über längere Zeit zu wenig Sauerstoff bekommt, kann es schweren Schaden nehmen. Kunz erwähnt, die Haltung der Familie von Frau Ahmadi sei wohl auch auf deren Religiosität zurückzuführen. «In ihrem Glauben ist das Leben ein Geschenk, das man unter allen Umständen erhalten muss.» Er bestärkt die Oberärztin darin, mit der Familie noch einmal das Gespräch zu suchen.
Bei der Visite liegt Frau Ahmadi mit angewinkelten Beinen im Bett. Ihr Atem geht schwer, sie starrt mit weit geöffneten Augen und grossen Pupillen auf die Ärztinnen und den Arzt, der auf einem Hocker an ihrem Bett Platz nimmt. Ihm gegenüber sitzt Herr Ahmadi auf einem zweiten Bett; er hat die letzten Tage und Nächte bei seiner Frau in der Klinik verbracht. Kunz beginnt mit der Patientin zu sprechen, fragt, wie es geht mit dem Atmen. «Schwierig», sagt sie leise und gepresst. Auch wenn sie ruhig daliege, bereite ihr das Atmen Mühe. Der Mann sagt, seine Frau sei sehr müde, leide unter Verstopfung und habe keinen Appetit. Kunz antwortet: «Ihre Frau ist schwer krank. Darum hat sie keinen Appetit. Die Krankheit sitzt überall im Körper, deshalb ist sie so müde. Der Körper hat immer weniger Kraft, um das zu bewältigen, was er muss. Aber wir versuchen, mit Medikamenten etwas für die Verdauung zu tun. Wir schauen, dass sie keine Schmerzen hat. Aber dagegen, dass der Tumor überall sitzt, können wir nichts mehr tun.»
Etwas später sind neben dem Mann von Frau Ahmadi auch zwei ihrer drei Töchter zu Besuch. Für 16 Uhr ist das Gespräch geplant, an dem neben Oberärztin Hannah Schlau und Assistenzärztin Mahnoor Anwar auch die verantwortliche Pflegefachfrau und eine Mitarbeiterin der spezialisierten Palliative-Care-Spitex teilnehmen. Sie alle setzen sich um das Bett von Frau Ahmadi. Es geht darum, die unmittelbar nächsten Schritte zu besprechen.
Die Familie möchte wissen, wie lange es noch so weitergeht. Eine der Töchter sagt: «In diesem Zustand kann sie ja nicht nach Hause.» Schlau erklärt, ob eine Rückkehr nach Hause realistisch sei, hänge vielmehr davon ab, was die Familie tragen könne. Sie spricht Klartext, wählt ihre Worte aber mit Bedacht: «Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass es schlechter wird.» Die Mitarbeiterin der Palliative-Care-Spitex führt aus, dass die spezialisierte Pflege zu Hause fast rund um die Uhr gewährleistet werden könnte. Sie erwähnt jedoch auch, dass dies mit einem erheblichen Aufwand verbunden wäre.
Die Familie scheint den Ernst der Lage nun langsam zu realisieren. Es gibt aber noch viele Fragen, die sie beschäftigen, und auch die Entscheidung über eine allfällige Reanimation im Fall eines plötzlichen Herzstillstands ist noch nicht gefallen. «Ich sehe, dass das wenig sinnvoll wäre», sagt eine der Töchter. «Aber wir möchten das in Ruhe mit unserem Vater besprechen.» Dann fragt die zweite Tochter, ob es möglich wäre, Frau Ahmadi mit dem Flugzeug zu ihren Eltern ins Ausland transportieren zu lassen, damit die Familie von ihr Abschied nehmen könnte. Das Spital würde Hand dazu bieten und auch die entsprechenden ärztlichen Atteste ausstellen, antwortet die Oberärztin. Doch die Organisation müsste die Familie übernehmen. Auch die umgekehrte Möglichkeit wird nun noch kurz diskutiert: die Variante, die betagten Eltern von Frau Ahmadi in die Schweiz einzufliegen.
Schliesslich fragt die jüngere Tochter, ob es nicht möglich wäre, das Leiden ihrer Mutter «mit einer Spritze» zu verkürzen. Die Oberärztin erklärt, diese Option stehe nicht zur Verfügung. Grundsätzlich wäre ein assistierter Suizid mit Unterstützung einer Sterbehilfeorganisation in der Schweiz möglich, jedoch nicht im Spital. Vorsichtig formuliert Schlau, dass die Lebenszeit von Frau Ahmadi ohnehin limitiert sei. Auf eine Reanimation, sagt sie, würde sie an der Stelle der Familie verzichten. «Wir sollten versuchen, Ihrer Mutter ein sanftes Sterben zu ermöglichen. Sie ist bei uns in guten Händen.» Herr Ahmadi und seine Töchter scheinen zu verstehen, was die Ärztin sagt. Ob sie die Tragweite in diesem Moment erfassen, ist nicht ganz klar.
Persönliche Erfahrungen mit Krankheit und Tod
«Das Bild des Sarges, der aus dem Haus getragen wird, werde ich nie vergessen. Im Sarg lag mein Vater, und das Haus, in dem er bis zu seinem letzten Atemzug blieb, hatte er selbst gebaut.» Der Palliativmediziner Roland Kunz ist geprägt von eigenen Erfahrungen mit Krankheit und Tod. Die Wahl, sich als Arzt auf die Disziplinen Geriatrie und Palliative Care zu spezialisieren, fiel nicht zufällig: Sein Vater starb 1984 nach einer längeren Krebserkrankung. Er wurde 62 Jahre alt. Dieses Erlebnis hat Kunz tief beeindruckt und seinen Werdegang beeinflusst.
Dass er Arzt werden will, wusste Roland Kunz allerdings schon seit der Zeit im Gymnasium. Er erinnert sich, dass er damals, während der Schulzeit, auf ein Buch über den deutsch-französischen Mediziner Albert Schweitzer (1875 – 1965) stiess. Dieser war als «Urwaldarzt» bekannt geworden und hatte in Lambarene im zentralafrikanischen Gabun ein Spital gegründet. Die Philosophie Schweitzers, der den Respekt vor den Menschen, den Tieren und der Natur propagierte, faszinierte Kunz. Er las alles, was er über den Arzt finden konnte. Der Pioniergeist und die Idee eines Spitals im Urwaldgebiet, von der Schweitzer beseelt war und die er zielstrebig umsetzte, begeisterten ihn. Der legendäre «Urwalddoktor» wurde zu seinem Vorbild.
«Die Geschichte Schweitzers hat mich in der Auffassung bestärkt, dass man immer Wege findet, um das zu erreichen, was man wirklich will», sagt Roland Kunz. «Albert Schweitzers Grundhaltung sowie die Ehrfurcht vor dem Leben und vor den Patienten imponierten mir. In der Jugendzeit war dies sicher eine meiner wichtigsten Prägungen.» Schweitzer wurde für ihn zu einer Schlüsselfigur. «Nachdem ich ihn entdeckt hatte, war für mich klar, dass ich Medizin studieren wollte.»
Roland Kunz ist mit einem zwei Jahre älteren Bruder in Tagelswangen, einem Dorf zwischen Zürich und Winterthur, aufgewachsen. Das Haus der Familie, gebaut vom Vater, der Architekt war, steht am Waldrand.