C'est la vie. Rebekka Haefeli
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Am gleichen Abend ist auch Roland Kunz’ Mutter Verena zu Besuch im Spital. Kunz erinnert sich: «Der Arzt bat sie hinaus auf den Gang und warf ihr an den Kopf, es sehe nicht gut aus für meinen Vater.» Mit dem Patienten selbst spricht der Chirurg nicht. Es ist die Mutter, die dem Vater und später auch dem Sohn erzählt, was der Arzt zu ihr gesagt hat. Kunz nimmt dieses Verhalten des Chefarztes als ausgesprochen schlechtes Beispiel einer Arzt-Patienten-Kommunikation wahr, was ihn sehr verärgert. Er schreibt dem Chirurgen einen Brief an dessen Privatadresse und teilt ihm mit, er fühle sich nicht ernst genommen. Er teilt ihm mit, es wäre in seinen Augen besser gewesen, die Sache gemeinsam mit allen Betroffenen zu besprechen. Nach einiger Zeit bekommt er eine Antwort: Die Frau des Chirurgen schreibt ihm zurück und nimmt ihren Mann in Schutz.
«Mein Vater war der Typ ‹stiller Dulder›. Er nahm den Schicksalsschlag der Krankheit hin und versuchte, das Beste daraus zu machen und trotzdem irgendwie ins Leben zurückzufinden», erzählt Kunz. «Er kehrte nach dem Eingriff an seinen Arbeitsplatz an der ETH zurück, sobald es ihm möglich war. Doch seine Kräfte schwanden, und er verlor immer mehr an Gewicht. Man sah ihm an, dass es mit der Operation nicht getan war und die Krankheit fortschritt.»
Der Krebs dehnt sich aus, es bilden sich Metastasen. Heinrich Kunz hat einen harten, aufgetriebenen Bauch und leidet zunehmend unter Schmerzen. Die ganze Familie realisiert, dass es abwärts geht und die gemeinsame Zeit beschränkt ist. «Wir sprachen alle zusammen offen darüber», erklärt Kunz. «Das baldige Ableben meines Vaters integrierten wir ganz natürlich in unsere Gespräche.»
Auf der anderen Seite nimmt bei Roland Kunz die Enttäuschung und Empörung zu. Sein Unverständnis über das Verhalten des Hausarztes, bei dem der Vater in Behandlung ist, wird grösser. Der Arzt will offenbar nicht wahrnehmen, wie krank sein Patient ist; er fragt nie nach, was diesen beschäftige. «Er behandelte meinen Vater, als ob dieser noch eine Lebenserwartung von dreissig Jahren gehabt hätte», erzählt Roland Kunz. «Entsprechend nahm er auch die Schmerzen, die meinen Vater immer mehr quälten, nicht ernst.» Als der Hausarzt Heinrich Kunz bei einer Konsultation ein leichtes, nicht rezeptpflichtiges Schmerzmittel und einen Verdauungstee verschreibt, ist das Mass voll. Für Roland Kunz ist das der Beweis, dass der Arzt mit der Situation überfordert ist. Er wendet sich mit der Unterstützung eines befreundeten Ärzte-Ehepaars an einen Magen-Darm-Spezialisten. Es ist der richtige Entscheid. Der Spezialist geht professionell mit der Situation um, anerkennt den Ernst und bespricht ehrlich mit der ganzen Familie, was auf sie zukommen wird. Roland Kunz steht seinen Eltern während dieser Zeit bei medizinischen Fragen stets zur Verfügung. Als Arzt fühlt er sich zu unerfahren, um die Behandlung seines Vaters allein zu übernehmen.
Knapp zwei Jahre nach der Diagnose stirbt der Vater daheim in Tagelswangen, umgeben von seiner Familie. Nur in den letzten Tagen schafft er es nicht mehr, die Treppe vom Schlaf- hinunter ins Wohnzimmer zu bewältigen. Er zieht sich immer mehr zurück. Der Tod des Vaters ist für Roland Kunz ein Schlüsselerlebnis: Er erlebt hautnah, was es bedeutet, wenn ein Familienmitglied schwer erkrankt ist und sich langsam verabschiedet. Die eigene Betroffenheit ist eine grosse Motivation für ihn, sich in den folgenden Jahren in der Palliative Care zu engagieren.
Die Mutter, Verena Kunz, verlässt einige Jahre nach dem Tod des Vaters das Haus in Tagelswangen, und Roland Kunz zieht mit seiner eigenen Familie dort ein. Die Mutter bezieht eine Wohnung in Wallisellen, bis sie selbst schwer erkrankt. 2002 erhält sie die Diagnose Gebärmutterkrebs. Als es ihr zunehmend schlechter geht, kehrt sie nach Tagelswangen zurück. Drei Generationen leben nun unter einem Dach. Diesmal übernimmt der Sohn eine andere Rolle als während der Krankheit des Vaters: Er trägt die Verantwortung für die Behandlung und gerät in eine nicht einfache Doppelrolle als Sohn und als Arzt.
Die folgende Zeit ist herausfordernd, denn Kunz reflektiert bewusst bei jedem anstehenden medizinischen Entscheid, aus welcher Perspektive er diesen fällt. Er möchte den Bedürfnissen der Mutter möglichst gerecht werden. «Sich dieser Doppelrolle und der Komplexität bewusst zu werden, brauchte viel Disziplin», sagt er heute. Ging es etwa darum, die Dosis der Opiate zu erhöhen, um die Schmerzen zu stillen, fragte er sich, welchen Blickwinkel er bei der Anpassung der Dosierung einnehmen sollte: den des Sohnes, der das Leiden der Mutter nicht mehr mitansehen kann, oder den des Mediziners, der den Tod nicht beschleunigen möchte?
Verena Kunz, die zur Zeit der Diagnosestellung 79 Jahre alt ist, geht mit ihrer Erkrankung ganz anders um als ihr Mann. Sehr bald zieht sie sich vom gesellschaftlichen Leben weitgehend zurück. Eine gewisse Reserviertheit, die ihr schon vorher eigen war, scheint sich zu verstärken. Sie möchte Menschen, die nicht zur Familie gehören, nicht mit ihrer Krankengeschichte belasten und scheut sich, ihre körperliche Schwäche und Hinfälligkeit gegen aussen zu zeigen. Mit der eigenen Familie aber pflegt sie auch in dieser schwierigen Zeit einen offenen Austausch. Sie stellt ihrem Sohn viele medizinische Fragen und verlangt von ihm ehrliche Antworten. Der Sohn und die Schwiegertochter pflegen sie Tag und Nacht. Einen grossen Teil der Arbeit übernimmt Angie Kunz. «Wir konnten sie nicht lange im Haus allein lassen», erinnern sich die beiden. «Gleichzeitig mussten wir aufpassen, dass unser eigenes Familienleben nicht zu kurz kam. Wir waren uns bewusst, dass die Gefahr der Erschöpfung gross ist.» Verena Kunz stirbt schliesslich 2004, im Alter von 81 Jahren.
Die Erlebnisse mit den eigenen Eltern bestärken Roland Kunz auf seinem weiteren Weg. Für ihn bestätigt sich, dass es eine grosse Lücke gibt in der Versorgung schwer kranker Menschen, die viel mehr als nur ärztliche Tätigkeiten umfasst. Heute sagt er, dass es selbst 2004, als seine Mutter im Sterben lag, noch praktisch keine Hausärzte mit Palliative-Care-Kompetenzen gab. Er selbst hat sich zu dieser Zeit bereits ein grosses Wissen in der Pflege und Betreuung schwer kranker und sterbender Menschen angeeignet und engagiert sich in entsprechenden Fachkommissionen.
«Die eigene Erfahrung half mir, zu verstehen, wie gross die Belastung durch eine schwere Krankheit für eine betroffene Familie sein kann», hält er rückblickend fest. «Auch darum rate ich pflegenden Angehörigen immer, rechtzeitig Unterstützung zu holen, um nicht auszubrennen.» Die eigene Betroffenheit hat ihm noch etwas anderes vor Augen geführt: «Seit diesen Tagen weiss ich, wie wichtig es ist, dass Angehörige auch im Spital genug Zeit bekommen, um von einem verstorbenen Familienmitglied Abschied zu nehmen. Mein Vater blieb 24 Stunden aufgebahrt bei uns zu Hause, nachdem er gestorben war. Mir half das, seinen Tod zu realisieren und einzuordnen. Auch im Spital sollen sich Angehörige ohne Zeitdruck von ihren verstorbenen Liebsten verabschieden können.»
Die persönlichen Erfahrungen haben ihn noch etwas anderes gelehrt, das seinen Alltag prägt: Pläne nicht aufzuschieben. «Ich nahm meinen Vater, bevor er starb, als älteren Mann wahr, der vor der Pensionierung steht. Als er starb, dachte ich, es sei doch viel zu früh dafür», sagt Roland Kunz. «Mein Vater hatte Träume und Projekte stets vor sich hergeschoben und auf die Zeit nach dem Ruhestand vertagt. Nach seinem Tod sagte ich mir: Das soll mir selbst nicht passieren.»
Kunz versucht seither, seinem inneren Antrieb zu folgen und Pläne, die ihm wichtig sind, rechtzeitig in die Tat umzusetzen. Ohne die Endlichkeit aus den Augen zu verlieren.
Auf der Palliativstation: Tag 2
Seit dem ersten Tag auf der Palliativstation sind 48 Stunden vergangen. Es ist Donnerstagmorgen. Zwei Patientinnen auf der Station sind gestorben. Frau Schlegel, die an Bauchspeicheldrüsenkrebs und an Demenz litt, starb noch am Dienstagabend. Ihr Mann, der an diesem Tag ihre Tasche abgeholt hatte und bei seinem Besuch seltsam überfordert, unbeteiligt und kühl wirkte, war noch einmal bei ihr. «Er erzählte uns, sie sei nicht die erste Frau, die er verliere», sagt Roland Kunz. Für den Arzt wird damit das auf den ersten Blick nicht ganz nachvollziehbare, distanzierte