24/7. Jonathan Crary
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Schlafentzug als Folter lässt sich über viele Jahrhunderte zurückverfolgen. Seine systematische Anwendung fällt aber historisch zusammen mit der Verfügbarkeit von elektrischem Licht und Lautsprecheranlagen. Er wurde zuerst routinemäßig in den dreißiger Jahren von Stalins Geheimpolizei eingesetzt und war normalerweise der Auftakt für das, was die NKWD-Schergen das »Fließband« nannten – die organisierte Abfolge von Brutalitäten und sinnlosen Gewalttätigkeiten, die Menschen irreparabel verletzen. Diese Prozedur ruft nach relativ kurzer Zeit Psychosen und nach mehreren Wochen neurologische Schäden hervor. Bei Experimenten mit Ratten führt Schlaflosigkeit nach zwei bis drei Wochen zum Tod. Sie verursacht einen Zustand äußerster Hilflosigkeit und Willfährigkeit, in dem man dem Opfer aber keine sinnvolle Information mehr abpressen kann, weil es wahllos alles gestehen oder erfinden würde. Die Verweigerung von Schlaf ist die gewaltsame Enteignung des Selbst durch eine äußere Macht, die planmäßige Vernichtung des Individuums.
Natürlich wurde die Folter schon seit langem von den Vereinigten Staaten direkt oder über ihre Vasallenregime praktiziert. Das Neue nach dem 11. September ist aber die Leichtigkeit, mit der sie als ein kontroverses Thema neben anderen ins Blickfeld der Öffentlichkeit rücken konnte. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Amerikaner die Anwendung von Folter unter bestimmten Umständen befürwortet. Dass Schlafentzug Folter sein soll, wird in den herrschenden Medien durchweg bestritten. Er wird vielmehr als psychologisches Druckmittel angesehen, das vielen genauso akzeptabel erscheint wie die Zwangsernährung hungerstreikender Häftlinge. Wie Jane Mayer in ihrem Buch The Dark Side berichtet, wurde Schlafentzug in Pentagon-Dokumenten zynisch damit gerechtfertigt, dass auch die Elitesoldaten der Navy Seals bei Übungseinsätzen 48 Stunden lang wach bleiben müssen.2 Entscheidend ist, dass die Behandlung der »Sonderhäftlinge« in Guantánamo und anderswo explizite Folterpraktiken mit einer vollständigen Kontrolle der sinnlichen Wahrnehmung verbindet. Die Insassen leben in fensterlosen Zellen bei ständiger Beleuchtung. Wenn sie herausgeführt werden, tragen sie Augen- und Ohrenklappen, damit sie weder wissen, ob Tag oder Nacht ist, noch sehen oder hören, wo sie sich aufhalten. Dieses System der sensorischen Deprivation umfasst oft auch die täglichen Kontakte zum Wachpersonal, das ihnen voll bewaffnet mit Handschuhen und Helm gegenübertritt, hinter einem nur halbdurchsichtigen Plexiglasvisier, sodass der Gefangene nie ein menschliches Gesicht, nicht einmal ein Stück Haut sehen kann. Zu diesen Techniken und Methoden, die eine erschreckende Willenlosigkeit hervorbringen sollen, gehört die Fabrikation einer Welt, die keinerlei Fürsorge, Schutz oder Beistand gewährt.
An dieser besonderen Konstellation aktueller Ereignisse lassen sich einige der vielfältigen Folgen neoliberaler Globalisierung und westlicher Modernisierungsprozesse ablesen. Ich möchte diesem Komplex keine besonders signifikante Erklärungskraft zubilligen. Er kann aber als vorläufiger Einstieg dienen, um Licht auf einige Paradoxien der expandierenden kapitalistischen Nonstop-Lebenswelt des 21. Jahrhunderts zu werfen – Paradoxien, die von den sich verändernden Verhältnissen zwischen Schlaf und Wachheit, Beleuchtung und Dunkelheit, Recht und Terror ebenso wenig zu trennen sind wie von den Formen der Exposition, Schutzlosigkeit und Verwundbarkeit. Man könnte einwenden, dass ich bestimmte Ausnahme- oder Extremfälle herausgreife. Wenn dem so ist, sind sie aber nicht ohne Bezug zu dem, was sich andernorts zu normalen Bedingungen entwickelt hat. Eine dieser Bedingungen lässt sich als die allgemeine Einordnung menschlichen Lebens in eine ununterbrochene Zeitdauer bezeichnen, die dem Prinzip permanenten Funktionierens gehorcht. Es ist eine Zeit, die nicht mehr vergeht, jenseits der Uhrzeit.
Hinter dem platten Slogan 24/7 verbirgt sich eine statische Redundanz, die ihr Verhältnis zu den rhythmischen Periodisierungen des menschlichen Lebens verleugnet. Er beschwört das künstliche, eintönige Bild einer 7-Tage-Woche im 24-Stunden-Takt, das die Entfaltung vielfältigen oder kumulativen Erlebens verhindert. Man könnte zum Beispiel nicht einfach 24/365 sagen, weil dies die unbequeme Vorstellung einer größeren Zeitspanne ermöglichen würde, in der sich etwas verändern könnte, in der es unvorhergesehene Ereignisse gibt. Wie ich eingangs sagte, arbeiten schon seit Jahrzehnten viele Institutionen in der entwickelten Welt rund um die Uhr. Erst jetzt aber wird die persönliche und soziale Identität so umgeformt, dass sie mit der ununterbrochenen Tätigkeit der Märkte, Informationsnetze und anderer Systeme in Einklang gebracht wird. Ein 24/7-Milieu sieht aus wie eine soziale Welt, ist aber ein nichtsoziales Modell mechanischen Funktionierens, eine Aufhebung des Lebendigen, die nicht verrät, auf wessen Kosten seine Betriebsamkeit geht. Es unterscheidet sich von dem, was Lukács und andere im frühen 20. Jahrhundert als die leere, gleichförmige Zeit der Moderne erkannten, von der metrischen oder kalendarischen Zeit der Nationen, Finanzen und Industrien, aus der persönliche Hoffnungen oder Pläne verbannt waren. Das Neue ist die radikale Preisgabe jedweden Anspruchs, Zeit mit langfristigen Unternehmungen oder auch nur mit Vorstellungen von »Fortschritt« oder Entwicklung zu verbinden. Eine strahlende 24/7-Welt, die keinen Schatten wirft, ist die kapitalistische Endzeitvision eines Posthistoire, einer Austreibung der Alterität als dem Motor geschichtlichen Wandels.
24/7 ist eine Zeit der Gleichgültigkeit, der gegenüber die Fragilität menschlichen Lebens zunehmend inadäquat wird, eine Zeit, in der der Schlaf nicht länger notwendig oder gar unvermeidlich ist. Sie lässt die Vorstellung eines Arbeitens ohne Pause, ohne Ende plausibel, ja normal erscheinen. So verbindet sie sich mit dem Unbelebten, Inerten oder Alterslosen. Als plakative Mahnung ordnet sie die absolute Verfügbarkeit an, weckt ununterbrochen neue Bedürfnisse, die aber beständig unerfüllt bleiben. Die fehlende Einschränkung des Konsums ist keine nur zeitliche. Wir sind längst über die Epoche hinaus, in der vor allem Dinge akkumuliert wurden. Unsere Körper und Identitäten nehmen heute eine immer größere Menge von Dienstleistungen, Bildern, Verfahren oder Chemikalien auf, bis hin zu einem toxischen und oft tödlichen Übermaß. Das langfristige Überleben des Individuums steht immer zur Disposition, wenn die Alternative auch nur indirekt die Möglichkeit einräumen könnte, dass der Fortgang des Shoppens oder der Vermarktung unterbrochen werden könnte. Auf diese Weise ist das 24/7-Modell, das mit seiner Verkündung der ständigen Verausgabung, der unablässigen Vergeudung zum Zwecke seiner Selbsterhaltung letztlich die Kreisläufe und zeitlichen Rhythmen des ökologischen Gleichgewichts sprengt, untrennbar verbunden mit der Umweltkatastrophe.
Der Schlaf in seiner tiefen Nutzlosigkeit und Passivität, mit den von ihm verursachten, unkalkulierbaren Verlusten in der Zeit der Produktion, Zirkulation und Konsumtion, wird mit den Ansprüchen einer 24/7-Welt stets kollidieren. Der gewaltige Teil unseres Lebens, in dem wir schlafen, befreit von einer Vielzahl vorgespiegelter Bedürfnisse, besteht als eines der großen menschlichen Ärgernisse für die Gefräßigkeit des heutigen Kapitalismus fort. Schlaf ist die kompromisslose Unterbrechung der uns vom Kapitalismus geraubten Zeit. Die meisten der scheinbar unhintergehbaren Notwendigkeiten menschlichen Lebens – Hunger, Durst, sexuelles Begehren und neuerdings auch das Bedürfnis nach Freundschaft – wurden in Waren- oder Geldform verwandelt. Schlaf aber bedeutet die Idee eines menschlichen Bedürfnisses und Zeitintervalls, das sich nicht von einer gewaltigen Profitmaschinerie vereinnahmen oder einspannen lässt, das eine sperrige Anomalie bleibt, ein Krisenherd in der globalen Gegenwart. Trotz aller wissenschaftlichen Forschung auf diesem Gebiet durchkreuzt und