Kriminologie. Tobias Singelnstein
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Quantitative Ansätze stehen auch in der kriminologischen Forschung immer noch im Vordergrund, obwohl die Bedeutung qualitativer Methoden hier wie auch allgemein in den Sozialwissenschaften zunimmt. Beide Herangehensweisen haben ihre Berechtigung und können methodisch gültige empirische Erkenntnisse erbringen. Allerdings sind sie für verschiedene Fragestellungen in unterschiedlichem Maße geeignet.98 Ihre Wahl bleibt von der Weltsicht der Forschenden und der jeweiligen Forschungsintention abhängig.
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Unabhängig von der methodischen Herangehensweise stellt sich weiterhin die Frage, ob die für das Forschungsvorhaben notwendigen Daten selbst erhoben werden sollen (Primärdaten) oder ob bereits für einen anderen Zweck erhobene Daten ausgewertet werden können (Sekundärdaten).99 Wichtige Quellen für Sekundärdaten im Bereich der Kriminologie sind zum einen die amtlichen Statistiken (Polizeiliche Kriminalstatistik, Staatsanwaltschafts-, Strafverfolgungs- und Strafvollzugsstatistik) sowie die durch Strafverfolgungsbehörden angelegten Akten. Außerdem können auch Daten, die für andere Studien erhoben wurden, für weitere Fragestellungen [48] verwendet werden. Auswertungen von Sekundärdaten haben den Vorteil, dass die meist ressourcenintensive eigene Datenerhebung entfällt. Zugleich ergeben sich aus der Verwendung von Sekundärdaten auch Nachteile, da die Erhebung der Daten nicht im Hinblick auf den Forschungszweck erfolgt ist und von partikularen Interessen geleitet sein kann. Generell liefern Sekundärdaten ein durch das spezifische Interesse bei der Datenerhebung und die gewählte Erhebungstechnik verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Insbesondere amtliche Quellen, wie aktenmäßige Erfassungen und Statistiken, betreffen nur das amtlich bekannt gewordene Hellfeld der Kriminalität und dürfen nicht als Abbild der Wirklichkeit verstanden werden (→ § 15 Rn 6).
II. Einzelne Methoden der Datenerhebung
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Für die Erhebung von Primärdaten in kriminologischen Forschungsvorhaben sind aus der empirischen Sozialforschung vor allem die verschiedenen Formen der Befragung, der Beobachtung und des Experiments von Bedeutung. Diese können jeweils quantitativ bzw. qualitativ ausgestaltet werden oder beide Aspekte kombinieren, was als Triangulation oder mixed-method-Forschung bezeichnet wird.100 Die Methodenwahl ist von der angestrebten Erkenntnis abhängig. Besondere Problemstellungen hinsichtlich der Methoden ergeben sich bei der Dunkelfeldforschung, die daher gesondert behandelt wird (→ § 17 Rn 19 ff.).
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Befragungen können in Form von Fragebögen (von den Befragten selbst auszufüllen) oder von Interviews (Befragung durch einen Interviewer) durchgeführt werden. Fragebögen, die online oder in Papierform zur Verfügung gestellt werden, sind das Standardinstrument in vielen quantitativen kriminologischen Forschungen und in sehr unterschiedlicher Form möglich101. Sie sind kostengünstig, weshalb große Stichproben realisierbar sind. Anonymität und die Abwesenheit eines Interviewers ermöglichen auch die Abfrage sensibler Daten, z. B. hinsichtlich eigener Viktimisierungs- oder Tätererfahrung. Allerdings sind bei Befragungen mit Fragebögen die Rücklaufquoten meist niedrig, was die Aussagekraft erheblich einschränken kann. Werden die Befragungen unmittelbar durch einen Interviewer geführt, ist der Anteil abgeschlossener Befragungen deutlich höher und eventuell auftretende Missverständnisse können direkt beseitigt werden.102 Allerdings ist dieses Vorgehen kostenintensiver und mit Möglichkeiten der subjektiv verzerrten Datenerfassung belastet.
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Bei Fragebögen sind die Fragen meist geschlossen formuliert, d.h. mit der Frage wird dem Befragten gleichzeitig eine begrenzte Anzahl möglicher Antworten vorgegeben.103 Auf diesem Weg lassen sich die erhobenen Daten vergleichsweise einfach statistisch und sogar automatisiert auswerten. Im Gegenzug begründet die Vorstrukturierung der Antwortmöglichkeiten durch die Forschenden die Gefahr, dass von diesen übersehene, aber relevante Antwortmöglichkeiten in der Untersuchung nicht erfasst werden.
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Bei Interviews können verschiedene methodische Herangehensweisen unterschieden werden, die zu erheblichen Divergenzen bei den sichtbar gemachten Daten führen. Die Unterschiede bestehen insbesondere in einer unterschiedlich starken Strukturierung der Interviews. Bei strukturierten (standardisierten) Interviews stehen Inhalt, Anzahl und Reihenfolge der Fragen schon vor der Befragung fest. Ein solches Vorgehen dient in der Regel dazu, mit geschlossenen Fragen vor allem quantitativ auswertbare Daten zu erzeugen. Demgegenüber werden freie Interviews mit offenen Fragen für ethnografische und andere qualitative Studien eingesetzt. Dazwischen gibt es zahlreiche Möglichkeiten eines semi-strukturierten Interviews, etwa anhand von Leitfäden, in denen die interviewende Person die Möglichkeit hat, die Interaktion zu beeinflussen und so auch außerhalb der ursprünglichen Fragen liegende Aspekte aufzunehmen, die sich erst im Laufe der Befragung ergeben.104
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Bei jeglicher Form der Befragung ist die Datenerhebung durch das Erinnerungsvermögen der Befragten begrenzt. Dies kann zu Verzerrungen führen, da kürzlich als einschneidend empfundene Erlebnisse und Erfahrungen besser erinnert werden als solche, die als üblich oder bagatellhaft empfunden werden und schon länger zurückliegen.105 Durch die Formulierung der Fragen haben die Forschenden großen Einfluss auf das Antwortverhalten, z. B. durch Suggestivfragen, die Art der Formulierung und die Reihenfolge der Fragen. Dies kann zu einer Beeinflussung der Ergebnisse führen.106
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Eine weitere Methode zur Gewinnung qualitativer Daten sind moderierte Gruppendiskussionen oder focus groups, bei denen Experten oder Akteure eines bestimmten sozialen Feldes über vorgegebene Fragestellungen diskutieren. Die Diskussion zwischen den zumeist sechs bis acht Teilnehmenden wird von diesen selbständig geführt, um eine dynamische Gruppeninteraktion zu erreichen, die möglichst ohne Einmischung der forschenden Personen viele inhaltliche Aspekte zu dem jeweiligen Thema hervorbringt. Der Einsatz von focus groups eignet sich vor [50] allem für explorative Studien, mittels derer ein Überblick über das Forschungsfeld gewonnen werden soll.107
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Die Beobachtung ist überwiegend ein Verfahren zur Gewinnung qualitativer Daten. Sie kann offen oder verdeckt erfolgen, die beobachtende Person kann sich als solche zu erkennen geben oder nicht. Eine weitere Unterscheidung wird vorgenommen zwischen teilnehmenden Beobachtungen, also solchen bei denen der Beobachtende durch bloße Anwesenheit oder aktive Teilnahme Teil des Interaktionsgeschehens ist, und nicht-teilnehmenden Beobachtungen. Während ethnografische Studien auf Grundlage von Beobachtungen im angloamerikanischen Raum häufiger vorkommen, sind sie in der deutschsprachigen kriminologischen Forschung eher selten. Aus der Nähe der Forschenden zum Feld ergibt sich einerseits die Möglichkeit, menschliche Interaktionen direkt und nicht vermittelt über die Aussagen Dritter wahrzunehmen und den nonverbalen Kontext des Verhaltens zu beobachten. Andererseits hat die Anwesenheit von Beobachtenden einen Einfluss auf die Situation, in der sich die Beobachtung vollzieht. Eine neutrale Beobachtung ohne Interaktion mit dem sozialen Beobachteten ist nicht möglich. Dies wird als reaktiver Effekt bezeichnet und kann dazu führen, dass die Probanden ein anderes Verhalten an den Tag legen, als sie dies ohne (offene) Beobachtung tun würden.108
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Bei der Methode des Experiments wird ein Verhalten oder Geschehen untersucht, dessen Bedingungen durch die forschende Person vorab festgelegt sind.109 Das zu untersuchende Geschehen wird dabei unter verschiedenen Bedingungen wiederholt, um so die Abhängigkeit einer Variable von einer anderen festzustellen, z. B. den Einfluss einer Interventionsart auf das generelle Ausmaß an Straffälligkeit.110
III.