Arztstrafrecht in der Praxis. Klaus Ulsenheimer

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Arztstrafrecht in der Praxis - Klaus Ulsenheimer Praxis der Strafverteidigung

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sich daraus eine Zahl von deutlich über 2.000 staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren wegen ärztlicher Fehlleistungen im Diagnose- und Therapiebereich. Bedenkt man, dass in der Bundesrepublik 115 Landgerichte und Staatsanwaltschaften tätig sind, dann dürfte die von Ulsenheimer auf Grund dieser und anderer Detailangaben bzw. Hochrechnungen geschätzte Zahl von über 3.000[12] sog. Kunstfehlerverfahren nicht zu hoch, sondern eher zu niedrig gegriffen sein.[13] Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass die vermehrt diskutierte Verantwortlichkeit der sog. patientenfernen Entscheider zu einer Ausweitung der von der Verfolgung betroffenen Personen führen dürfte.[14] Es kommt hinzu, dass neben den allgemeinen, an jedermann gerichteten Delikten der §§ 222, 229 StGB eine ganze Reihe weiterer, meist allerdings Vorsatz fordernde Straf- und Ordnungswidrigkeitentatbestände existieren, die (auch) speziell für das ärztliche Handeln im Kontext von Diagnose und Therapie einschlägig sind. Beispielhaft genannt sein sollen hier lediglich der Schwangerschaftsabbruch (§§ 218 ff. StGB), der zeitweise drohende Tatbestand der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB a.F.), die Verletzung der Schweigepflicht (§ 203 StGB), das Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse (§ 278 StGB), strafbare Verstöße gegen das AMG (§§ 95, 96), BtMG (§ 29), ESchG (§§ 1 ff.), GenDG (§§ 25 f.), GenTG (§§ 38 f.), HWG (§ 14), IfSG (§ 74), MPG (§ 41), StZG (§ 13), TFG (§ 31), TPG (§§ 18, 19) und UWG (§§ 16 ff.). In der Justizpraxis kommt diesen Delikten zwar regelmäßig eine vergleichsweise geringe Bedeutung zu. Sie unterstreichen jedoch, dass die heilberufliche Tätigkeit insbesondere des Arztes in diverser Hinsicht dem Strafrecht untersteht. Schließlich ist zu betonen, dass dem Arztstrafrecht mit dem heute fast omnipräsenten Medizinwirtschaftsstrafrecht eine zweite Hauptsäule neben dem klassischen, auf die Behandlung und ihre Umstände bezogenen Sektor erwachsen ist. Bereits seit einigen Jahrzehnten haben Strafverfahren gegen Ärzte mit vermögensrechtlichem Einschlag, also wegen Betrugs (§ 263 StGB), Untreue (§ 266 StGB) und der Korruptionsdelikte (zunächst die §§ 331 ff. StGB, sodann auch wegen § 299 StGB) große Bedeutung erlangt. Diese Verfahren haben die Geschäftsgestaltung und die Abrechnung im Gesundheitswesen zum Gegenstand und gehen insbesondere auf der Geberseite der Korruption über Ärzte als Beschuldigte weit hinaus. Sie betreffen insbesondere andere Heilberufe. Abrechnungsbetrug und Korruptionsdelikte etwa in Verbindung mit Leistungen der Pharmaindustrie sind immer häufiger Gegenstand staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen, ihre Zahl geht jährlich in die Tausende.[15] Unlängst hat diese Entwicklung mit der Schaffung der Spezialtatbestände der §§ 299a, 299b StGB, die sich explizit auf die Zurückdrängung der Korruption im Gesundheitswesen richten, ihren Höhepunkt erreicht. Die Einrichtung entsprechender Schwerpunktstaatsanwaltschaften verdeutlicht, dass es sich hierbei schon vor dem Hintergrund des im Gesundheitswesen stets vorhandenen Kostendrucks nicht nur um eine vorübergehende Modeerscheinung handelt.[16] Zu rechnen ist eher mit der weiteren Ausdehnung, was Debatten um einen ergänzenden speziellen Betrugstatbestand und die jüngste Fruchtbarmachung des § 266a StGB (zu ihr Rn. 1730 ff.) für das Gesundheitswesen nur nochmals unterstreichen. Das verfügbare Zahlenmaterial im Zivil- und Strafrecht und die jüngere Gesetzgebung zeigen eine eindeutige Tendenz: eine „Verrechtlichung“ der Medizin, die Ärzte als „Diktat juristischer Zwänge“ und „Kriminalisierung“ ihrer Tätigkeit nicht ohne Gründe beklagen und erheblich beunruhigt. Das Risiko, von einer Strafanzeige und einem eingeleiteten Strafverfahren mit erheblichen Konsequenzen betroffen zu sein, hängt aus der Perspektive der Betroffenen heute wie ein Damoklesschwert als ständige Bedrohung über der ärztlichen Heilbehandlung bzw. der Tätigkeit im Gesundheitswesen.[17] Sogar von Seiten der Staatsanwaltschaft wird zum Teil von einer „Inflation des Strafrechts“[18] gesprochen und in der Strafrechtswissenschaft nicht selten vor einem „Sanktionierungs- und Verfolgungseifer“[19] gewarnt. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Verurteilungen von Ärzten wegen eines berufsspezifischen Fehlverhaltens insgesamt nur bei etwa 5 % der eingeleiteten Ermittlungsverfahren zu berichten und damit offenbar äußerst selten sind.[20] Die Einstellungsquote mangels hinreichenden Tatverdachts liegt mit einem Wert von bis zu über 80 % ebenso wie die Quote der Einstellung gegen Zahlung einer Geldauflage mit bis zu 15 % weit über dem bundesdeutschen Durchschnitt.[21] Zu berücksichtigen ist ferner, dass die genannten Zahlen vor dem Hintergrund von etwa 385.000 praktizierenden Ärzten und jährlich über 19 Mio. stationärer Eingriffe sowie 700 Mio. Behandlungsfällen im ambulanten Bereich sich letztlich „verschwindend gering“ ausnehmen.[22] So erfreulich gerade die letzte Bilanz für die Ärztinnen und Ärzte sicherlich ist, relativieren die genannten Zahlen die bestehenden Befürchtungen doch nur sehr graduell. Der Blick darf sich im Strafrecht nicht nur auf die Verurteilung richten: a) Schon ein Ermittlungsverfahren ist häufig existenzgefährdend, manchmal sogar existenzvernichtend, jedenfalls aber oft Ursache tiefgreifender persönlicher Belastungen und weitreichender Änderungen im privaten Lebensbereich.[23] Ärzte, die sich um Assistenzarzt-, Oberarzt- oder Chefarztpositionen bewerben, müssen in Fragebögen regelmäßig angeben, ob gegen sie ein Strafverfahren anhängig ist. Die Antwort „ja“ bedeutet praktisch, trotz oft guter Qualifikation und des Bewerbermangels, dass der Betreffende nicht in die engere Wahl kommt und damit – jedenfalls temporär – den Verlust jeglicher Chancen auf beruflichen Erfolg. Verschweigt der Arzt aber wahrheitswidrig das anhängige Strafverfahren, riskiert er die fristlose Kündigung.[24] Suspendierungen vom Dienst, Arbeitsplatzverlust durch Kündigung während der Probezeit oder außerordentlich nach einem Schuldspruch, manchmal sogar fristlos (!) bei Vorliegen eines bloßen „Kunstfehler“-Verdachts – vor Verurteilung durch ein Gericht oder Anklageerhebung (!) – sind in der Praxis keine Seltenheit.[25] Sie machen deutlich, zu welch schwerwiegenden Konsequenzen die Einleitung und Durchführung eines Ermittlungsverfahrens für den Betroffenen nur allzu oft führen. Vor allem die älteren, also regelmäßig besonders erfahrenen Ärztinnen und Ärzte, die nie etwas mit Gericht oder Staatsanwaltschaft zu tun hatten, stehen fassungslos der Durchsuchung von Praxisräumen, der Beschlagnahme von Krankenblattunterlagen und sonstigen Zwangsmaßnahmen gegenüber und vermögen sich in der – völlig ungewohnten und als ehrenrührig empfundenen – Rolle des Beschuldigten nicht zurechtzufinden. b) Außenstehende Dritte haben häufig keine bzw. nur eine unzureichende Vorstellung von den psychischen und physischen Belastungen, den Unannehmlichkeiten und Misslichkeiten eines Ermittlungsverfahrens, insbesondere wenn es zu einer Anklage kommt. Richtern und Staatsanwälten sind diese zwar grundsätzlich bewusst. Sie werden aber doch meist erheblich unterschätzt bzw. verdrängt.[26] Im Gegensatz zu Zivilprozessen um Schadensersatz und Schmerzensgeld, in denen ebenfalls ärztliche Pflichtverletzungen öffentlich erörtert werden, üben Strafverfahren und – häufig mehrtägige – Hauptverhandlungen ganz offensichtlich eine besondere, geradezu magische Anziehungskraft auf Laien aus.[27] Deshalb wird schon der Inhalt der Anklageschrift meist publiziert. Er entfaltet dann seine stigmatisierende Wirkung, oftmals mit Namensnennung und Vorverurteilung des Arztes. Denn allzu rasch und leicht zieht der Laie aus einem Zwischenfall oder einer Komplikation den Schluss auf ein Fehlverhalten oder Verschulden des Arztes (sog. Rückschaufehler, dazu näher Rn. 69 und 89), weil er die Komplexität des Sachverhalts, die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge und die eingriffsspezifischen Risiken nicht kennt bzw. nicht genügend berücksichtigt.[28] Die zentrale Unterscheidung zwischen Unrecht und Unglück bleibt dadurch auf der Strecke. Während vor dem Zivilgericht kaum je ein Zuhörer anwesend ist, finden strafgerichtliche Hauptverhandlungen oft in breitester Öffentlichkeit vor einem gefüllten Zuschauerraum und vor der Presse statt. Dies führt zu einer fast archaischen „Prangerwirkung“, die Ruf und Ansehen des Angeklagten in persönlicher und beruflicher Hinsicht oft dauerhaft schädigt.[29] Dabei spielt der Ausgang des Prozesses kaum noch eine Rolle. Denn selbst wenn der Angeklagte freigesprochen oder das Verfahren eingestellt wird, gilt gerade in diesen Fällen der Satz: semper aliquid haeret, zumal wenn die Hauptverhandlung in kleinen Städten stattfindet und damit der individuelle Bekanntheitsgrad des Arztes das allgemeine Interesse zusätzlich weckt. So löst derselbe Fehler,

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