Arztstrafrecht in der Praxis. Klaus Ulsenheimer

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Arztstrafrecht in der Praxis - Klaus Ulsenheimer Praxis der Strafverteidigung

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nehmen an Gewicht weiterhin zu, besonders die Verrechtlichung des Verhältnisses zwischen Arzt und Patient,[67] die immer weiter perfektionierte Apparatemedizin, die Spezialisierung und damit einhergehende Arbeitsteilung, Unpersönlichkeit und „Massenabfertigung“ in Großkliniken sowie der Zeit- und Konkurrenzdruck. Hinzu kommt der Zeitgeist, in einer erfolglosen Therapie, einer tödlichen Komplikation oder misslungenen Operation, besonders bei kleineren Eingriffen oder Routineeingriffen, in erster Linie ein menschliches Versagen zu sehen und hinter schicksalshaften Geschehensabläufen sofort den Arzt als schuldigen Urheber zu suchen. Dabei wird außer Acht gelassen, dass „zwischen Schicksal und Schuld unterschieden werden“[68] muss, weil der menschliche Körper nicht gleich einer Maschine beherrschbar, sondern in seiner Individualität weithin ein Geheimnis bleibt und es deshalb „kaum eine ärztliche Tätigkeit ohne mehr oder weniger Risiko gibt“.[69] Ein circulus vitiosus scheint in Gang gesetzt: Je größer der medizinische Fortschritt, umso vielfältiger die ärztlichen Möglichkeiten, umso höher der Leistungsstandard, umso strenger aber auch – parallel dazu – der Sorgfaltsmaßstab und damit die Sorgfaltsanforderungen, umso naheliegender deshalb die Gefahr ihrer Verletzung und das Haftungsrisiko. All dies dürfte auch die voranschreitende Digitalisierung nicht beenden. Obschon sie das Bild bzw. die Stellung des Arztes fundamental ändern kann und dürfte, wird sie zu neuen und anderen Prüfungsplichten des Arztes Anlass geben, die ebenfalls Gegenstand von Vorwürfen sein können. Es kommt vielmehr hinzu, dass sich das ehedem ganz auf Ärzte konzentrierte Strafrecht angesichts seiner Schlüsselstellung für die Behandlung zwar weiter vornehmlich an den Arztberuf richtet, weshalb auch dieses Werk keinen neuen Namen tragen muss. Es ist aber insgesamt zu einem Strafrecht des Gesundheitswesens geworden, das diversen Heilberuflern etwa durch die §§ 203, 299a, 299b StGB Verhaltensvorschriften bei Strafe auferlegt. Zahlreiche Pflegeberufe haben an der Behandlung Teil und sind auch fernab Aufsehen erregender exzeptioneller Taten[70] Ziel strafrechtlicher Ermittlungen. Zugleich sind die Leitungsebenen zum Beispiel von Krankenhäusern insbesondere unter dem Aspekt der Organisationspflichten und der Tatbeteiligung nicht zuletzt hinsichtlich der Vermögensabschöpfung (Einziehung) Ziele des heutigen Medizinstrafrechts. Schließlich kommt innerhalb des Medizinwirtschaftsstrafrechts hinzu, dass das hochkomplexe Zusammenspiel der Normen des Strafrechts, des Berufsrechts, des Zivilrechts und gerade des öffentlich-rechtlichen Vertragsarztrechts vor dem Hintergrund des steigenden und nie entfallenden Kostendrucks eine Vielzahl klärungsbedürftiger Rechtsfragen stellt. Sie können gerade bei einer allzu leichtherzigen Auslegung und Tatverdachtsprüfung[71] schnell zu Ermittlungsverfahren führen. All diese Entwicklungen werden entsprechend in dieser Neuauflage etwa durch die Neufassung des Kapitel 1 Teile 13 bis 15 berücksichtigt. 5. Jeder, der sich mit dem Arztstrafrecht – gleichgültig aus welcher Sicht – befasst, sollte den empirischen Hintergrund, die tatsächlichen Gegebenheiten der Strafverfolgung auf dem medizinischen Sektor, kennen. Staatsanwälte, Richter und Verteidiger müssen Einfühlungsvermögen für die „großen Schwierigkeiten des ärztlichen Berufs“ und die „Verantwortung, die der Arzt, wie kaum ein anderer, zu tragen hat“[72] aufbringen. Entscheidend für die Bewältigung der Probleme des klassischen Arztstrafrechts wie des heutigen Medizinwirtschaftsstrafrechts sind aber natürlich profunde Kenntnisse im materiellen Strafrecht und des bei seiner Konkretisierung einschlägigen Medizin- und Sozialrechts. Ebenso bedarf es einer sicheren Beherrschung der Strafprozessordnung. Entsprechend muss sich auch dieses Buch inhaltlich und in seiner Darstellung mehr an den Juristen als an den Arzt wenden, und zwar in erster Linie an den Anwalt als seinen Berater und Verteidiger. Angesichts der aufgezeigten folgenreichen Konsequenzen des Arztstrafrechts ist eine effiziente Strafverteidigung auf diesem Sektor notwendiger denn je, um Auswüchse zu vermeiden und bei der Suche „nach dem gedeihlichen Verhältnis zwischen dem juristischen und dem medizinischen Praktiker“[73] zu einer ausgewogeneren bzw. vernünftigeren strafrechtlichen Beurteilung ärztlichen Handelns zu gelangen. Die Erkenntnis, „dass es am Krankenbett auch Grenzen des Rechts geben kann“,[74] ist bislang leider oft zu vermissen.[75] Letzteres erklärt „die allergische Reaktion nicht weniger Mediziner auf den Juristen“, weil er es „als eine persönliche Ungerechtigkeit“ begreift, wenn „aus den Hunderten und Tausenden von Fällen, die er, oft nach gravierenden Komplikationen, durch äußersten Einsatz seiner ärztlichen Kunst zu einem guten Ende gebracht hat, nur dieser eine Fall vom Staatsanwalt und Richter unter die juristische Lupe genommen wird, unter dem ihn in seinem ärztlichen Ethos allein schon zutiefst verletzenden Verdacht fahrlässiger Körperverletzung oder gar fahrlässiger Tötung“.[76] Zwischen den „Welten“ des Mediziners und des Juristen ist deshalb ein Brückenschlag erforderlich, der, wie es ein englischer Richter formulierte, einerseits deutlich macht, dass „die Ärzte gehalten sind, ein genügendes Maß von Klugheit und Vorsicht zu gebrauchen“, andererseits aber bei ihren Entscheidungen und der Übernahme von Verantwortung nicht „den Mut verlieren dürfen im Hinblick auf die Überlegung, dass ein Fehler ihrerseits das Risiko in sich birgt, wegen einer (beruflichen) Nachlässigkeit gerichtet und verurteilt zu werden“.[77] Deshalb sollten vernünftige Richter „stets den besonderen und oft schwierigen Verhältnissen, unter denen der Arzt im einzelnen Falle zu arbeiten gezwungen ist, Rechnung tragen und den Begriff der Fahrlässigkeit nicht überspannen“, andererseits dürfen im Einklang „mit allen gewissenhaften Ärzten die Forderungen an die Vorsicht des Arztes nicht zu niedrig gestellt werden“.[78] 6. In diesem Sinne bemühen sich alle Autorinnen und Autoren dieses Buches nach wie vor, auch für den Arzt lesbar und verständlich zu schreiben, damit er sich als unmittelbar Betroffener selbst ein Bild von den für ihn geltenden Ge- und Verboten der Rechtsordnung, den Anforderungen der Rechtsprechung an seine ärztlichen Pflichten, den Maßstäben für die strafrechtliche Beurteilung ärztlicher Sachverhalte und den Möglichkeiten seiner Verteidigung im Strafverfahren machen kann. Denn die ärztliche Fortbildungspflicht umfasst nach Ansicht des BGH das Gebot, sich mit den „einschlägigen juristischen Fragestellungen zu beschäftigen“.[79] Dabei wird der Arzt feststellen, dass trotz aller Kritik an der Judikatur und trotz aller juristisch und/oder ökonomisch motivierter Zwänge die Therapiefreiheit, die Freiheit des Gewissens und die ethisch fundierte, eigenverantwortliche Gewissensentscheidung in der Rechtsprechung durchaus eine fundamentale Bedeutung behalten haben.[80] Unter dieser doppelten Zielsetzung ist das Buch aus der Praxis entstanden und für die Praxis aufbereitet und auch deshalb mit vielen Fallbeispielen unterlegt. Anders als frühere Werke des Arztstrafrechts[81] nimmt das Buch weiterhin seinen Ausgang von dem in der Praxis maßgeblichen Rechtsstand, der insbesondere von der Rechtsprechung geprägt wird. Das bedeutet aber nicht, dass der – überdies nicht stets durch Rechtsprechung geklärte – Status quo sodann keiner theoretisch-wissenschaftlichen Auseinandersetzung zugeführt würde. Im Gegenteil: Die Rechtsprechung – und nicht ein einzelner theoretischer Ansatz des Schrifttums – steht lediglich im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen. Überdies verlangen das verfolgte Ziel und der zur Verfügung stehende begrenzte Raum die Beschränkung auf die strafrechtlichen und strafprozessualen Fragen, die sich immer wieder oder doch in nennenswerter Zahl im Justizalltag des Arzt- und Medizinstrafrechts stellen und diesen Alltag damit prägen. Die in der ärztlichen Praxis weniger häufig auftretenden Straftatbestände können dagegen nur im Überblick behandelt werden.

      Anmerkungen

       [1]

      Kohler zitiert nach Ebermayer Arzt und Patient in der Rechtsprechung, 3. Aufl. 1925, S. 106 f.

       [2]

      Siehe zu dessen Persönlichkeit A.M. Staufer Leben und Werk des höchsten Anklägers der Weimarer Republik unter

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