Handbuch des Verwaltungsrechts. Группа авторов
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Deeskalation im Honeywell-Beschluss
Wohl auf die Kritik an der überzogenen Abwehrhaltung im Lissabon-Urteil hin ruderte der Zweite Senat 2010 mit dem Honeywell-Beschluss[213] alsbald deutlich zurück und stellte bei grundsätzlichem Beharren auf der Möglichkeit einer Ultra-vires-Kontrolle für eine entsprechende Feststellung hohe Hürden auf. In dieser Version konnte man der Möglichkeit einer Ultra-vires-Kontrolle sogar stabilisierende Züge für das Gesamtgefüge in einem nicht-hierarchischen Verfassungsmodell im Sinne gegenseitiger Stabilisierung zuschreiben,[214] eine Art Vorwirkung auf die europäische Kompetenzhandhabung.
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Ultra-vires-Feststellung im PSPP-Urteil
Mit Urteil vom 5. Mai 2020 hat der Zweite Senat des BVerfG mit einer Mehrheitsentscheidung diese Schwebelage zerstört und erstmals eine Ultra-vires-Feststellung getroffen, allerdings nicht im Hinblick auf europäische Gesetzgebung, sondern betreffend ein Anleihekaufprogramm der EZB („PSPP“) und ein diesbezügliches EuGH-Urteil.[215] Die Entscheidung ist auf breite Kritik gestoßen, hat aber auch vereinzelt Zuspruch erhalten.[216]
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Risiken eines überzogenen Kontrollanspruchs
Es lässt sich zeigen, dass die Senatsmehrheit im Zweiten Senat der Sache nach einen Ultra-vires-Akt im weiten Sinne beanstandet, was gegenüber der europäischen Ebene auf eine allgemeine Rechtskontrolle hinausläuft.[217] Dies ist mit den vertraglichen Verpflichtungen aus den Gründungsverträgen nicht vereinbar.[218] Das PSPP-Urteil missachtet letztlich eine alte Klugheitsregel im Recht: „Was, wenn das jeder täte?“. Schließlich könnten auch Höchstgerichte, Parlamente und andere Akteure in allen anderen Mitgliedstaaten eine eigene Verhältnismäßigkeitssicht zur EZB und Anderem einnehmen. So lassen sich sämtliche europarechtlichen Verpflichtungen vom Kartell- und Beihilfenrecht über das Umweltrecht bis hin zum Binnenmarktrecht in Frage stellen.[219] Dies birgt das Potenzial zur Destabilisierung des gesamten Europarechts.
IV. Andere Kompetenzkontrolleure?
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Umfassende Selbstkontrolle
Jede Kompetenzwahrnehmung ist zugleich auch konkludent ein Vergewissern über das Vorliegen einer Kompetenz. Deswegen sind im Normsetzungsverfahren auch Rat, Europäisches Parlament, Kommission und andere Beteiligte Kompetenzkontrolleinrichtungen. Der Rat ist dabei in besonderem Maße die Institution, in der Belange aus den Mitgliedstaaten geltend gemacht werden können.
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Rolle der nationalen Parlamente bei der Kompetenzkontrolle
Nach vereinzelten frühen – erfolglosen – Versuchen, aus den nationalen Parlamenten heraus Akte der Gemeinschaft aus Kompetenzgründen anzugreifen,[220] bieten heute etliche Bestimmungen auf Vertrags- und Verfassungsebene den nationalen Parlamenten institutionalisierte Kompetenzkontrollmöglichkeiten, die allerdings auf das „Wie“ der Kompetenzwahrnehmung ausgerichtet sind (Subsidiaritätsrüge und -klage).[221] Diese sind bis auf vereinzelte Fälle[222] kaum genutzt worden.
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Ungeeignetheit weiterer Kontrollinstanzen
Daneben sind immer wieder weitere politische oder gerichtsförmige Instanzen vorgeschlagen worden – gerade auch von Richtern des BVerfG.[223] Dazu ist festzuhalten, dass mit dem EuGH bereits ein Kompetenzgericht besteht und demgegenüber die Nachteile genuin neuer Institutionen überwiegen.[224] Der judizielle Dialog bzw. das ständige Gespräch zwischen den Gerichten der verschiedenen Ebenen im Wege des Vorlageverfahrens[225] dürfte nach wie vor großes Konfliktlösungspotential aufweisen.
F. Schlussbetrachtung
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Konsolidierung der Kompetenzordnung
Insgesamt ergibt sich das Bild einer durch zahlreiche positive und negative Kompetenzbestimmungen eingehegten europäischen Hoheitsgewalt, für die die Wirkweise der Kompetenzen immer besser verstanden wird. Mit dem Vertrag von Lissabon scheinen ab 2009 die ganz grundsätzlichen Kompetenzdebatten abgeflaut zu sein. Sogar die kritische Durchsicht der europäischen Kompetenzordnung der britischen Regierung im Kontext des Brexit („Balance of Competences Review“[226]) hat trotz gegenteiligen Suchauftrags nach sinnvollen Kompetenzrückübertragungsmöglichkeiten nach mehr als zwei Jahren nichts Substantielles ergeben.
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Verbleibende Interpretationsspielräume
Zwischen in der Realität auftretenden Sachfragen und in Texten niedergelegten Kompetenzthemen werden indessen immer Interpretationsspielräume bleiben. Entscheidend für die Stabilität des Rechts dürfte dabei wie in den meisten Mehrebenensystemen letztlich auch für die EU als Rechtsgemeinschaft die Akzeptanz einer maßgeblichen Instanz bei Kompetenzstreitigkeiten sein.
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Offene Fragen
Auch Interpretationsspielräume haben jedoch Grenzen, und es sind längst nicht alle Kompetenzfragen geklärt. So hat sich seit Beginn der Eurokrise 2010 immer wieder die Frage gestellt, ob auf europäischer Ebene ausreichende Kompetenzen zur Bewältigung der Krise bestehen, insbesondere im Bereich der Wirtschaftspolitik. Wegen der Corona-Krise erscheint die begrenzte Unionskompetenz in Gesundheitsfragen in einem deutlich ungünstigeren Licht als früher. Auch die Frage ob und wie sich die Union im Zuge der Krisenbewältigung selbst verschulden kann, ist – wiederum – eine Kompetenzfrage.[227] Die Kompetenzordnung wird sich auch zukünftig weiterentwickeln.
G. Bibliografie
Ninon Colneric, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Kompetenzgericht, EuZW 2002, S. 709–715.
Alan Dashwood, The Limits of European Community Powers, EL Rev 21 (1996), S. 113–128.
Franz C. Mayer, Competences – Reloaded? The Vertical Division of Powers in the EU after the New European Constitution, ICON 3 (2005), S. 493–515.
ders., Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000.
ders., Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, ZaöRV 61 (2001), S. 577–640.
ders., Die Europäisierung des Verwaltungsrechts, in: FS für Ulrich Battis, 2014, S. 47–62.
ders., Der Ultra vires-Akt. Zum PSPP-Urteil des BVerfG v. 5. 5. 2020 – 2 BvR 859/15 u. a., JZ 2020, S. 725–734.
Martin Nettesheim, Kompetenzdenken als Legitimationsdenken. Zur Ultra-vires-Kontrolle im rechtspluralistischen Umfeld, JZ 2014, S. 585–592.
Ingolf Pernice, Kompetenzabgrenzung im Europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, S. 866–876.
Heiko Sauer, Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen, 2008.
Rupert Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre,