Der Antichrist. FRIEDRICH NIETZSCHE

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Der Antichrist - FRIEDRICH  NIETZSCHE

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Volk braucht einen Gott, um zu opfern ... Religion, innerhalb solcher Voraussetzungen, ist eine Form der Dankbarkeit. Man ist für sich selber dankbar: dazu braucht man einen Gott. — Ein solcher Gott muß nützen und schaden können, muß Freund und Feind sein können, — man bewundert ihn im guten wie im schlimmen. Die widernatürliche Kastration eines Gottes zu einem Gotte bloß des Guten läge hier außerhalb aller Wünschbarkeit. Man hat den bösen Gott so nötig als den guten: man verdankt ja die eigne Existenz nicht gerade der Toleranz, der Menschenfreundlichkeit ... Was läge an einem Gotte, der nicht Zorn, Rache, Neid, Hohn, List, Gewalttat kennte? dem vielleicht nicht einmal die entzückenden ardeurs des Siegs und der Vernichtung bekannt wären? Man würde einen solchen Gott nicht verstehn: wozu sollte man ihn haben? — Freilich: wenn ein Volk zugrunde geht; wenn es den Glauben an Zukunft, seine Hoffnung auf Freiheit endgültig schwinden fühlt; wenn ihm die Unterwerfung als erste Nützlichkeit, die Tugenden der Unterworfenen als Erhaltungsbedingungen ins Bewußtsein treten, dann muß sich auch sein Gott verändern. Es wird jetzt Duckmäuser, furchtsam, bescheiden, rät zum „Frieden der Seele“, zum Nicht-mehr-hassen, zur Nachsicht, zur „Liebe“ selbst gegen Freund und Feind. Es moralisiert beständig, er kriecht in die Höhle jeder Privattugend, wird Gott für jedermann, wird Privatmann, wird Kosmopolit ... Ehemals stellte er ein Volk, die Stärke eines Volkes, alles Aggressive und Machtdurstige aus der Seele eines Volkes dar: jetzt ist er bloß noch der gute Gott ... In der Tat, es gibt keine andre Alternative für Götter: entweder sind sie der Wille zur Macht — und so lange werden sie Volksgötter sein —, oder aber die Ohnmacht zur Macht — und dann werden sie notwendig gut ...

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      Wo in irgend welcher Form der Wille zur Macht niedergeht, gibt es jedesmal auch einen physiologischen Rückgang, eine décadence. Die Gottheit der décadence, beschnitten an ihren männlichen Tugenden und Trieben, wird nunmehr notwendig zum Gott der Physiologisch-Zurückgegangenen, der Schwachen. Sie heißen sich selbst nicht die Schwachen, sie heißen sich „die Guten“ ... Man versteht, ohne daß ein Wink noch not täte, in welchen Augenblicken der Geschichte erst die dualistische Fiktion eines guten und eines bösen Gottes möglich wird. Mit demselben Instinkte, mit dem die Unterworfenen ihren Gott zum „Guten an sich“ herunterbringen, streichen sie aus dem Gotte ihrer Überwinder die guten Eigenschaften aus; sie nehmen Rache an ihren Herren, dadurch daß sie deren Gott verteufeln. — Der gute Gott, ebenso wie der Teufel: beide Ausgeburten der décadence. — Wie kann man heute noch der Einfalt christlicher Theologen so viel nachgeben, um mit ihnen zu dekretieren, die Fortentwicklung des Gottesbegriffs vom „Gotte Israels“, vom Volksgott zum christlichen Gotte, zum Inbegriff alles Guten, sei ein Fortschritt? — Aber selbst Renan tut es. Als ob Renan ein Recht auf Einfalt hätte! Das Gegenteil springt doch in die Augen. Wenn die Voraussetzungen des aufsteigenden Lebens, wenn alles Starke, Tapfere, Herrische, Stolze aus dem Gottesbegriff eliminiert werden, wenn er Schritt für Schritt zum Symbol eines Stabs für Müde, eines Rettungsankers für alle Ertrinkende heruntersinkt, wenn er Arme-Leute-Gott, Sünder-Gott, Kranken-Gott par excellence wird, und das Prädikat „Heiland“, „Erlöser“ gleichsam übrig-bleibt als göttliches Prädikat überhaupt: wovon redet eine solche Verwandlung? eine solche Reduktion des Göttlichen? — Freilich: „das Reich Gottes“ ist damit größer geworden. Ehemals hatte er nur sein Volk, sein „auserwähltes“ Volk. Inzwischen ging er, ganz wie sein Volk selber, in die Fremde, auf Wanderschaft, er saß seitdem nirgendswo mehr still: bis er endlich überall heimisch wurde, der große Kosmopolit, — bis er „die große Zahl“ und die halbe Erde auf seine Seite bekam. Aber der Gott der „großen Zahl“, der Demokrat unter den Göttern, wurde trotzdem kein stolzer Heidengott: er blieb Jude, er blieb der Gott der Winkel, der Gott aller dunklen Ecken und Stellen, aller ungesunden Quartiere der ganzen Welt! ... Sein Weltreich ist nach wie vor ein Unterwelts-Reich, ein Hospital, ein souterrain-Reich, ein Getto-Reich ... Und er selbst, so blaß, so schwach, so decadent ... Selbst die Blassesten der Blassen wurden noch über ihn Herr, die Herrn Metaphysiker, die Begriffs-Albinos. Diese spannen so lange um ihn herum, bis er, hypnotisiert durch ihre Bewegungen, selbst Spinne, selbst Metaphysikus wurde. Nunmehr spann er wieder die Welt aus sich heraus — sub specie Spinozae —, nunmehr transfigurierte er sich ins immer Dünnere und Blässere, ward „Ideal“, ward „reiner Geist“, ward „Absolutum“, ward „Ding an sich“ ... Verfall eines Gottes: Gott ward „Ding an sich“ ...

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      Der christliche Gottesbegriff — Gott als Krankengott, Gott als Spinne, Gott als Geist — ist einer der korruptesten Gottesbegriffe, die auf Erden erreicht worden sind; er stellt vielleicht selbst den Pegel des Tiefstands in der absteigenden Entwicklung des Götter-Typus dar. Gott zum Widerspruch des Lebens abgeartet, statt dessen Verklärung und ewiges Ja zu sein! In Gott dem Leben, der Natur, dem Willen zum Leben die Feindschaft angesagt! Gott die Formel für jede Verleumdung des „Diesseits“, für jede Lüge vom „Jenseits“! In Gott das Nichts vergöttlicht, der Wille zum Nichts heilig gesprochen! ...

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      Daß die starken Rassen des nördlichen Europa den christlichen Gott nicht von sich gestoßen haben, macht ihrer religiösen Begabung wahrlich keine Ehre, — um nicht vom Geschmacke zu reden. Mit einer solchen krankhaften und altersschwachen Ausgeburt der décadence hätten sie fertig werden müssen. Aber es liegt ein Fluch dafür auf ihnen, daß sie nicht mit ihm fertig geworden sind: sie haben die Krankheit, das Alter, den Widerspruch in alle ihre Instinkte aufgenommen, — sie haben seitdem keinen Gott mehr geschaffen! Zwei Jahrtausende beinahe und nicht ein einziger neuer Gott! Sondern immer noch und wie zu Recht bestehend, wie ein ultimatum und maximum der gottbildenden Kraft, des creator spiritus im Menschen, dieser erbarmungswürdige Gott des christlichen Monotono-Theismus! Dies hybride Verfalls-Gebilde aus Null, Begriff und Widerspruch, in dem alle décadence-Instinkte, alle Feigheiten und Müdigkeiten der Seele ihre Sanktion haben! —

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      Mit meiner Verurteilung des Christentums möchte ich kein Unrecht gegen eine verwandte Religion begangen haben, die der Zahl der Bekenner nach sogar überwiegt: gegen den Buddhismus. Beide gehören als nihilistische Religionen zusammen — sie sind décadence-Religionen —, beide sind von einander in der merkwürdigsten Weise getrennt. Daß man sie jetzt vergleichen kann, dafür ist der Kritiker des Christentums den indischen Gelehrten tief dankbar. — Der Buddhismus ist hundertmal realistischer als das Christentum, — er hat die Erbschaft des objektiven und kühlen Probleme-Stellens im Leibe, er kommt nach einer Hunderte von Jahren dauernden philosophischen Bewegung; der Begriff „Gott“ ist bereits abgetan, als er kommt. Der Buddhismus ist die einzige eigentlich positivistische Religion, die uns die Geschichte zeigt, auch noch in seiner Erkenntnistheorie (einem strengen Phänomenalismus —), er sagt nicht mehr „Kampf gegen die Sünde“, sondern, ganz der Wirklichkeit das Recht gebend, „Kampf gegen das Leiden“. Er hat — dies unterscheidet ihn tief vom Christentum — die Selbst-Betrügerei der Moral-Begriffe bereits hinter sich, — er steht, in meiner Sprache geredet, jenseits von Gut und Böse. — Die zwei physiologischen Tatsachen, auf denen er ruht und die er ins Auge faßt, sind: einmal eine übergroße Reizbarkeit der Sensibilität, welche sich als raffinierte Schmerzfähigkeit ausdrückt, sodann eine Übergeistigung, ein allzulanges Leben in Begriffen und logischen Prozeduren, unter dem der Person-Instinkt zum Vorteil des „Unpersönlichen“ Schaden genommen hat (— beides Zustände, die wenigstens einige meiner Leser, die „Objektiven“, gleich mir selbst, aus Erfahrung kennen werden). Auf Grund dieser physiologischen Bedingungen ist eine Depression entstanden: gegen diese geht Buddha hygienisch vor. Er wendet dagegen das Leben im Freien an, das Wanderleben; die Mäßigung und die Wahl in der Kost; die Vorsicht gegen alle Spirituosa; die Vorsicht insgleichen gegen alle Affekte, die Galle machen, die das Blut erhitzen; keine Sorge, weder für sich, noch für andre. Er fordert Vorstellungen, die entweder Ruhe geben oder erheitern — er erfindet Mittel, die anderen sich abzugewöhnen. Er versteht die Güte, das Gütigsein als gesundheit-fördernd. Gebet ist ausgeschlossen, ebenso wie die Askese; kein kategorischer Imperativ, kein Zwang überhaupt, selbst nicht innerhalb der Klostergemeinschaft (— man kann wieder

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