Kindheit. Tolstoy Leo

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Kindheit - Tolstoy Leo

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daß Mimi mir bei allem hinderlich und im Wege war. In ihrer Gegenwart sprach ich niemals herzlich mit der reizenden, blonden, sauberen Katja.

      Ach, wie hat diese unerträgliche Mimi mein kindliches Leben vergällt! Man brauchte nur etwas zu sagen, so begann sie auch schon mit ihrem Korrigieren und sah bald Papa, bald Mama an, um zu zeigen, daß sie auf dem Posten sei …

      »Parlez donc français«, wenn man ihr zum Tort gerade gern russisch geplaudert hätte. Oder wenn einem bei Tisch etwas besonders schmeckte und man nicht gestört sein wollte, hieß es sicherlich: »Mangez donc avec du pain« oder »comment est ce que vous tenez votre fourchette?« Ach, wie war sie unerträglich! Und was ging ich sie an! Mochte sie doch ihre Mädchen unterrichten, wir hatten ja Karl Iwanowitsch dazu! Bisweilen teilte ich durchaus seinen Haß gegen »gewisse« Leute.

      Ins Eßzimmer gingen die Großen vorauf, wir Kinder hinterher, was uns Gelegenheit bot, ein paar angenehme Worte zu wechseln – angenehm nur, weil man sie in Gegenwart der anderen nicht sagen konnte.

      »Geht Papa auf die Jagd?«

      »Ja.«

      »Nimmt er euch mit?«

      »Ja, zu Pferde. Und ihr?«

      »Ich weiß nicht,« erwiderte Katja mit weinerlichem Gesicht.

      »Das geht nicht … Aber wollen sehen.«

      Man setzte sich zu Tisch. Die Suppe wurde gebracht. Grischa deklamierte von seinem Nebentisch aus, die Worte durch Schluchzen und jämmerliche Grimassen unterbrechend: »Vögelchen, Vögelchen, auf dem Grabe steht ein Stein; im Herzen ein Nagel; Taube flieg in den Himmel« usw.

      Mama war seit heute morgen verstimmt. Grischas Gegenwart und Bemerkungen verstärkten diesen Zustand; obgleich sie es nicht zugab, waren Pilger und Narren ihre Schwäche. Im Grunde ihres Herzens verehrte sie Grischa und glaubte wahrscheinlich an seine Fähigkeit, die Zukunft vorauszusagen.

      »Ach ja, ich habe vergessen, dich um etwas zu bitten,« sagte sie, dem Vater einen Teller mit Suppe hinreichend.

      »Was denn, mein Liebling?« fragte Papa lebhaft.

      »Laß, bitte, deine schrecklichen Hunde einsperren. Sie hätten den armen Grischa beinahe zerrissen, als er den Hof betrat. Ebensogut können sie sich auf die Kinder stürzen.«

      Als Grischa hörte, daß von ihm die Rede war, wandte er sich zu unserem Tisch herum und zeigte kauend seine zerrissenen Rockschöße.

      »Hat gehetzt … Hunde gehetzt. Sünde, große Sünde. Schlag ihn nicht Großer (so nannte er Papa). … Weshalb schlagen? Gott vergibt. Zeit ist nicht danach.«

      Papa blickte ihn unverwandt und strenge an, wandte sich dann an Mama und fragte: »Was spricht er? Übersetz es mir bitte, sonst verstehe ich nichts. Vous seule avez le don de le comprendre.«

      »Ich verstehe ihn,« meinte Mama lächelnd, »er erzählt, ein Jäger hätte absichtlich die Hunde auf ihn losgelassen; nun glaubt er, du würdest den Jäger dafür bestrafen und bittet, ihm zu verzeihen.«

      »Ach so!« meinte Papa. »Woher weiß er denn, daß ich den Jäger bestrafen will? Vielleicht habe ich gar nicht die Absicht,« fuhr er französisch fort. »Du weißt, ich bin überhaupt kein Freund solcher Leute, aber dieser hier mißfällt mir besonders, muß ein abgefeimter Spitzbube sein.«

      »Ach, sag das nicht!« unterbrach ihn Mama fast erschrocken. »Wie kannst du das wissen?«

      »Nun, ich hatte, glaube ich, genügend Gelegenheit, diese Art Leute kennen zu lernen. Es kommen ja genug zu dir, alle vom selben Schlage und stets ein und dieselbe Geschichte: unbedingt vornehme Herkunft, tragen irgendein Kreuz und Leiden, nach denen niemand sie fragt. All diese Frömmelei und Scheinheiligkeit zielt nur darauf ab, leichtgläubige und schwachnervige Damen zu finden, die ihnen die dreckigen Hände küssen, sie für Propheten halten und ihnen Geld geben. All diese unverstandenen Heiligen pilgern nicht aus Liebe zu Gott, wie sie sagen, sondern aus Faulheit und gewohntem Müßiggang.«

      Man sah, daß Mama in dieser Hinsicht ihre bestimmte Überzeugung hatte und nicht streiten wollte, deshalb fragte sie, um das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken, ob die Pasteten gut seien und bat, ihr eine zu reichen.

      Papa dagegen wollte streiten; er nahm eine Pastete, hielt sie so weit, daß Mama sie nicht erreichen konnte, und fuhr erregt fort: »Nein, mich ärgert –« dabei schlug er mit der Gabel auf den Tisch, »wenn ich sehe, wie vernünftige und gebildete Leute donnent dans le panneau und an sie glauben wie an Heilige.«

      »Gib mir doch die Pastete,« sagte Mama, etwas ungeduldig die Hand ausstreckend.

      »Und man tut ganz recht,« Papa zog seine Hand noch weiter zurück, »diese Gesellschaft einzusperren. Der einzige Nutzen, den sie bringen, besteht darin, daß sie die ohnehin schwachen Nerven gewisser Personen ruinieren,« fügte er lächelnd hinzu, da er bemerkte, daß dieses Thema Mama mißfiel. Gleichzeitig reichte er ihr die Pastete.

      »Ich will dir darauf nur eins erwidern,« sagte Mama. »Es fällt schwer zu glauben, daß ein Mensch, der trotz seiner sechzig Jahre beständig, Winter und Sommer, barfuß geht; der unter dem Anzug zwei Pud schwere Ketten trägt, die er nie ablegt, und der mehr als einmal das Anerbieten Mamas, bei ihr zu bleiben, abgelehnt hat (das weiß ich bestimmt) – daß ein solcher Mensch das alles aus Faulheit tun sollte. Was die Prophezeiungen anlangt,« fuhr sie nach kurzem Schweigen mit einem Seufzer fort – »je suis payée pour y croire: ich habe dir erzählt, wie Kiriuscha meinem Vater Tag und Stunde seines Endes vorausgesagt hat.«

      »Ach, mein Gott, was richtest du da an!« sagte Papa, nach Mimis Seite die Hand an den Mund legend. (Wenn er diese Bewegung machte, horchte ich stets mit größter Aufmerksamkeit in Erwartung von etwas Komischem.) »Warum hast du mich an seine Beine erinnert? Jetzt kann ich nicht weiteressen.«

      Das Mittagessen ging zu Ende. Ljubotschka und Katja zwinkerten mir beständig, bald in Mamas bald in Mimis Richtung zu. Dieses Zeichen bedeutete: jetzt ist Zeit zum Bitten; solch günstige Gelegenheit bietet sich sobald nicht wieder; jetzt alle zusammen. Ich stieß Wolodja an, und der faßte sich ein Herz; anfangs schüchtern, dann ziemlich bestimmt und laut sagte er: »Da wir heute fahren sollen, möchten wir gern, daß die Mädchen mit auf die Jagd kämen.« Mama sagte, sie führe selbst mit, und zur allgemeinen Freude wurde es erlaubt.

      Wie schrecklich war es manchmal, mit Bitten anzufangen! Dabei schien gar nichts zu fürchten – alle waren so gut! Hatte man aber einmal angefangen, so wußte man nicht, woher auf einmal alle die Dreistigkeit kam. Selbst wenn nicht erlaubt wurde, um was man bat, stritt man bisweilen dagegen an und suchte zu beweisen, daß es eine Ungerechtigkeit sei.

      Diese Schwäche, das heißt, daß mir der erste Schritt so schwer wurde, habe ich nicht nur in der Kindheit, sondern auch in reiferen Jahren an mir bemerkt. Was sage ich: diese! Nein, alle Schwächen der Kindheit sind dieselben geblieben. Der Unterschied ist nur der, daß sie andere Formen angenommen haben.

      7. Vorbereitungen zur Jagd

      Während des Nachtisches wurde Jakob gerufen und ihm wegen der Hunde, des Jagdwagens und der Reitpferde Befehle erteilt, alles in größter Ausführlichkeit unter Nennung jedes einzelnen Pferdes. Wolodjas Pferd lahmte, deswegen ließ Papa ihm ein Jagdpferd satteln.

      Dieses Wort »Jagdpferd« klang Mamas Ohren etwas befremdlich; sie stellte sich darunter einen feurigen Renner vor, der sicher durchgehen und Wolodja ums Leben bringen würde. Trotz Papas und Wolodjas Versicherungen, der mit jugendlichem Eifer beteuerte, daß das nichts zu bedeuten

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