Sämmtliche Werke 4: Mirgorod. Gogol Nikolai Vasilevich

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Sämmtliche Werke 4: Mirgorod - Gogol Nikolai Vasilevich

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die Mutter sah, daß ihre Söhne bereits die Pferde bestiegen, schmiegte sie sich an den Jüngeren, dessen Züge mehr Zärtlichkeit für sie verrieten. Sie ergriff seine Zügel, klammerte sich an seinen Sattel und wollte, die Augen voll Verzweiflung auf ihn geheftet, nicht von ihm lassen. Zwei kräftige Kosaken packten sie vorsichtig an und trugen sie in das Haus zurück. Aber als die Kavalkade gerade das Tor passiert hatte, lief sie, was in keinem Verhältnis zu ihrem Alter stand, mit der Behendigkeit einer jungen Ziege vor das Tor, hielt das Pferd mit unbegreiflicher Kraft an und umarmte ihren Sohn mit einer geradezu rasenden und sinnlosen Leidenschaft. Man mußte sie zum zweiten Male fortschleppen.

      Trübsinnig ritten die jungen Kosaken davon, indem sie sich aus Furcht vor dem Vater krampfhaft bemühten, die Tränen zurückzuhalten, der selbst etwas bewegt war, obgleich er sich’s nicht merken ließ. Es war ein trüber Tag, das Grün schimmerte grell, und die Vögel zwitscherten wild durcheinander. Nachdem unsere Freunde ein Weilchen geritten waren, schauten sie sich um: das Gehöft schien wie in den Boden gesunken zu sein, nur die beiden Schornsteine ihres bescheidenen Häuschens und die Wipfel der Bäume waren noch zu erblicken, in deren Ästen sie früher wie Eichhörnchen herumgeklettert waren. Nun lag die weite Wiese vor ihnen, die die Erinnerungen an ihr ganzes Leben wachrief: seit den Jahren da sie sich auf dem betauten Gras herumgetummelt hatten, bis zu der Zeit, wo sie den schwarzäugigen Kosakenmädchen auflauerten, die mit ihren flinken jungen Füßchen ängstlich über die Wiese liefen. Jetzt sah man nur noch die Stange über dem Brunnen, die mit ihrem oben befestigten Wagenrad einsam in den Himmel ragte, und die Ebene, die sie durchritten hatten, schien ihnen fast wie ein Berg, der alles verdeckte. – Lebt wohl, ihr kindlichen Spiele, lebt alle, alle wohl!

      Zweites Kapitel

      Die drei Reiter ritten schweigend vor sich hin. Der alte Taraß dachte an die Vergangenheit, seine Jugend zog an ihm vorüber: die dahingeschwundenen Jahre, die der Kosake beweint, der sein ganzes Leben lang jung zu bleiben wünscht. Er dachte daran, wem von seinen einstigen Kameraden er wohl in der Sjetsch begegnen würde. Er rechnete aus, welche von ihnen bereits gestorben wären, und wer wohl noch am Leben sein mochte. In seinem Auge glänzte eine stumme Träne, und sein ergrauter Kopf hing traurig herab …

      Seine Söhne waren mit ganz andern Gedanken beschäftigt. Doch es ist Zeit, etwas Näheres über sie mitzuteilen. Mit zwölf Jahren waren sie auf das Seminar von Kiew geschickt worden, denn alle höheren Würdenträger jener Zeit hielten es für nötig, ihren Söhnen eine gelehrte Erziehung zuteil werden zu lassen, obschon dies zu keinem andern Zweck geschah, als damit sie nachher alles Gelernte wieder vollständig vergessen. Bei ihrem Eintritt ins Seminar waren sie, wie alle Jünglinge ihrer Art, noch sehr wild und richtige Naturburschen; dort aber wurden sie gewöhnlich etwas abgeschliffen und nahmen bald durch die gleichmäßige Erziehung Gewohnheiten an, die da machten, daß sie sich alle ein wenig ähnlich sahen. Ostap, der ältere, begann seine Laufbahn damit, daß er noch im ersten Jahre die Flucht ergriff. Man brachte ihn zurück, prügelte ihn fürchterlich durch und setzte ihn hinter die Bücher. Viermal vergrub er sein Lesebuch in die Erde, und viermal wurde ihm ein neues angeschafft, nachdem er das alte unmenschlich zerrissen hatte. Er hätte es zweifellos noch zum fünftenmal versucht, wenn ihm sein Vater nicht feierlich geschworen hätte, ihn volle zwanzig Jahre als Knecht ins Kloster zu schicken und ihm nicht angedroht hätte, er solle die Sjetsch niemals zu Gesicht bekommen, wenn er sich auf der Akademie nicht alle Wissenschaften aneignen werde. Es ist interessant, daß derselbe Taraß Bulba dies sagte, der über alle Gelehrsamkeit spottete und, wie wir gesehen haben, seinen Kindern empfahl, sich nicht mit solchen Dingen zu beschäftigen! Seit dieser Zeit begann Ostap mit außerordentlichem Fleiß über dem langweiligen Buche zu brüten und wurde bald einer der besten Schüler. Das damalige Unterrichtssystem nahm nicht die geringste Rücksicht auf das wirkliche Leben; denn diese scholastischen, grammatikalischen, rhetorischen und logischen Finessen paßten gar nicht zu dem Zeitalter, wurden nie angewendet und wurden im Leben nie wieder gebraucht. Die, die sie beherrschten, konnten ihr Wissen, auch wenn es weniger scholastisch war, nirgends anbringen. Die damaligen Gelehrten waren bei ihrer Weltfremdheit, und weil es ihnen an der nötigen Erfahrung fehlte, fast noch unwissender, als die andern Menschen. Außerdem mußte ihnen auch die republikanische Verfassung der Seminare – diese ungeheuere Anzahl gesunder, kräftiger, junger Leute, Lust zu einer Tätigkeit einflößen, die gar nichts mit den Studien, die sie trieben, zu tun hatte. Oft genug erzeugten auch die schlechte Kost, die häufigen Hungerstrafen und die Bedürfnisse, die in einem frischen, gesunden, jungen Manne erwachen, jenen Unternehmungsgeist in ihnen, dem sie nachher in der Saporoger Sjetsch ungehemmten Lauf lassen konnten. Die hungrigen Seminaristen streiften durch die Straßen Kiews und zwangen alle zur peinlichsten Vorsicht. Die Hökerfrauen, die auf dem Markte saßen, bedeckten ihre Pasteten, Brezeln und Kürbissamen stets mit den Händen wie das Adlerweibchen seine Jungen, wenn sie einen Seminaristen vorbeikommen sahen. Der Konsul, dessen Pflicht es war, die ihm untergebenen Kameraden im Zaum zu halten, hatte so riesige Taschen in seinen weiten Beinkleidern, daß er den ganzen Kramladen der etwas eingeschlafenen Handelsfrau darin hätte unterbringen können. Diese Seminaristen bildeten eine abgeschlossene Welt für sich. Zu den höheren Kreisen, die sich aus dem russischen und polnischen Adel zusammensetzten, hatten sie keinen Zutritt. Selbst der Wojewode Adam Kissel führte sie trotz des Protektorates über das Seminar, das er übernommen hatte, nicht in die gute Gesellschaft ein, und erließ den Befehl, sie recht streng zu halten. Übrigens war diese Anordnung ganz überflüssig, denn der Rektor und die geistlichen Professoren sparten weder Ruten noch Peitsche, und oft genug züchtigten die Liktoren ihre Konsuln auf ihren Befehl so fürchterlich, daß jene sich noch wochenlang die Beinkleider kratzten. Vielen machte das kaum etwas aus, und brannte es nur ein wenig stärker, als ein gut gepfefferter Schnaps; andere jedoch bekamen die ständigen Züchtigungen gründlich satt und brannten nach dem Saporog durch, wenn sie den Weg dorthin zu finden wußten und nicht wieder eingefangen wurden. Ostap Bulba blieb, obschon er die Logik und die Gottesgelahrtheit mit großem Eifer zu erlernen begonnen hatte, keineswegs von den ewigen Prügelstrafen verschont. Es ist nur zu natürlich, daß diese Behandlung schließlich den Charakter verhärten und ihm jene gewisse Festigkeit geben mußte, die den Kosaken stets eigen war. Ostap galt immer für einen der besten Kameraden. Er verführte selten andere zu frechen Unternehmungen – wie etwa zu Raubzügen in fremde Obst- und Gemüsegärten; dafür aber war er einer der ersten, die sich unter die Fahne eines kühnen, unternehmungslustigen Seminaristen stellten, und nie, und unter keinen Umständen hätte er einen Kameraden verraten: weder Peitschenhiebe noch Rutenstreiche konnten ihn dazu veranlassen. Er war gleichgültig und voller Verachtung gegen alle Leidenschaften, die nicht auf den Krieg oder ein Freß- und Saufgelage abzielten. Wenigstens dachte er fast an nichts anderes. Gleichgestellten gegenüber besaß er eine große Offenheit. Er besaß eine gewisse Güte, soweit dies in dieser Zeit und bei einem solchen Charakter möglich war. Die Tränen der armen Mutter hatten sein Herz außerordentlich bewegt, und es war allein dies Gefühl, das ihn jetzt verwirrte und ihn zwang, nachdenklich den Kopf zu senken.

      Sein jüngerer Bruder Andrij hatte lebhaftere und bestimmtere Empfindungen. Das Lernen machte ihm mehr Vergnügen, und er bedurfte dazu keiner besonderen Anstrengung, die ein schwerfälliger und harter Charakter stets dabei anwenden muß. Er war erfinderischer als sein Bruder, war öfter Anführer bei gefährlichen Unternehmungen und verstand es, dank seiner Schlauheit und Intelligenz manches Mal der Strafe zu entgehen; während sein Bruder Ostap gleichmütig und ganz von selbst seinen Rock ablegte und sich auf den Boden streckte, ohne auch nur daran zu denken, daß er um Gnade bitten könnte. Andrijs Seele dürstete gleichfalls nach Heldentaten, aber sie war auch andern Empfindungen zugänglich. Als er das achtzehnte Jahr überschritten hatte, bemächtigte sich seiner ein heftiges Bedürfnis nach Liebe. Immer häufiger tauchte das Weib vor seinen erregten Sinnen auf; während er philosophischen Disputen beiwohnte, umschwebte es ihn: jung, schwarzäugig und zart. Unablässig glaubte er ein Paar glänzende kräftige Brüste oder einen wundervollen zarten nackten Arm vor sich zu sehen; das Kleid, das die jungfräulichen und zugleich starken Glieder einhüllte, hauchte in seiner Phantasie eine unaussprechliche Wollust aus. Er verbarg diese leidenschaftlichen Wallungen seiner Seele sorgfältig vor den Kameraden; denn in jener Zeit galt es für schmachvoll und ehrlos, wenn ein Kosak an Weiber und Liebe dachte, ehe er an einer Schlacht

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