Der Sinn und Wert des Lebens. Eucken Rudolf

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Der Sinn und Wert des Lebens - Eucken Rudolf

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ein Reich der Vernunft entdecken oder es in ein solches verwandeln zu können. Wie vermöchte sich aber bei solcher Lage geistiges Schaffen und edle Bildung als der Kern des Lebens zu behaupten? Auch der gegenwärtige Krieg muß den Eindruck ihrer Ohnmacht über die menschliche Seele verstärken. Wäre eine gemeinsame Vernunft die Grundkraft menschlichen Lebens, so müßte sie die Menschheit zusammenhalten und einen etwaigen Zwiespalt rasch überwinden, sie müßte allem Rohen und Gemeinen siegreich widerstehen, das an einzelnen Stellen erscheinen möchte. Deutlich genug aber sehen wir, daß das keineswegs geschieht. Was hilft uns dann aber jene Geisteskultur mit ihrer gepriesenen Bildung? Ist sie nicht bloß ein gefälliger Schein, mit dem sich das menschliche Leben umkleidet, um seine nackte Gestalt zu verhüllen? Und lohnt es sich dann, so viel Muße und Arbeit an diesen Schein zu verwenden? So ist es kaum zu verhüten, daß viel Geringschätzung dieses weltlichen Idealismus aufkommt und um sich greift. Und doch haben wir uns zu hüten, solcher Stimmung nachzugeben und die Güter geringzuschätzen, die er mit Behauptung und Leistung vertritt. Denn sie berühren keineswegs die bloße Oberfläche des Lebens, sie wirken weit über die Stimmung und Neigung der Individuen hinaus zu seiner Durchbildung von innen her, sie haben eine Klärung, Vertiefung, Veredlung an ihm vollzogen, deren Preisgebung uns in den Stand der Barbarei zurückschleudern würde; mag einer besonderen Zeit unter besonderen Geschicken sich ihr Bild verzerren, sie hören darum nicht auf, im Grunde des Lebens tätig zu sein und mehr aus dem Menschen zu machen, als sein eigenes Bewußtsein ihm zeigt. Das Reich der geistigen Güter verbleibt, auch wenn sich dem Menschen der Zugang zu ihm durch manche Hemmung zeitweilig versperrt. Immerhin verbleibt solche Hemmung und will vollauf gewürdigt sein; die führende Stellung des weltlichen Idealismus wird jedenfalls durch die Erfahrungen der Gegenwart schwer erschüttert. Und zugleich machen sie zweifelhaft, wieviel wir an ihm überhaupt besitzen, und wo sein Recht innerhalb eines weiteren Lebensganzen liegt. So verwandelt sich uns auch hier in eine unsichere Frage, was früheren Zeiten eine zuversichtliche Antwort gab.

      Demnach ist die Lebensordnung des weltlichen Idealismus heute nicht weniger erschüttert als die der Religion, wir verspüren die Erschütterung nur nicht so stark, weil sie weniger durch einen direkten Angriff als durch ein allmähliches Verblassen und Ermatten erfolgte; wie der weltliche Idealismus nicht die Kühnheit der Religion besitzt, so entzündet der Streit um ihn auch nicht so gewaltige Leidenschaft. Aber hier wie da kommen wir zu demselben Endergebnis: Lebensmächte, welche Jahrtausende lang die Menschheit beherrschten, ihrem Leben Ziele gaben und ihm dadurch einen Sinn verliehen, haben eine feste Wurzel im Bewußtsein des heutigen Geschlechts verloren und erhalten sich mehr durch träge Gewohnheit als durch eigene Erfahrung. Nur die Verstrickung in die Geschäfte des Alltags und das Überwiegen von Einzelfragen läßt uns übersehen, wie Ungeheures bei uns vorgeht. Oder ist es nicht etwas Ungeheures, wenn Ziele, an die Jahrtausende ihre beste Kraft gesetzt haben, und im Glauben an die sie lebten und starben, nunmehr eine bloße Einbildung scheinen und damit der bisherige Hauptzug des Strebens als ein leerer Wahn befunden wird? Ist es nicht etwas Ungeheures, wenn die unsichtbare Welt, früher als eine sichere Zuflucht ergriffen und als ein Quell der Liebe und Wahrheit gepriesen, nunmehr sich völlig auflösen muß? Wir müßten die Umwälzung anerkennen, wenn das Gebot der Wahrheit sie forderte; aber nur flache Denkart kann leicht und vergnüglich alles hinter sich werfen, was bisher als heilig galt. Zum mindesten dürfte sie nicht übersehen, daß das Durchschauen eines so langen Irregehens der ganzen Menschheit allen Glauben an ihr Vermögen zur Wahrheit aufs tiefste erschüttern müßte.

      Die neueren Lebensordnungen

      Die gemeinsame Grundlage

      So schwer wir die Erschütterung der Gegenwart durch das Verblassen der unsichtbaren Welt nehmen mögen, es sei nicht vergessen, daß zu ihrem Ersatz ein vielverheißender Aufbau im Werke ist, und daß einem neuen Leben die sichtbare Welt unvergleichlich mehr geworden ist, als sie früheren Zeiten war. Diese Welt hat sich nicht nur in der Natur um uns wie in der eigenen Geschichte der Menschheit der Erkenntnis in ungeahnter Weise erschlossen, sie hat auch dem menschlichen Wirken immer mehr Angriffspunkte gezeigt; der Befund der Dinge, sonst wie ein unentrinnbares Schicksal hingenommen, zeigt sich jetzt sehr wohl einer Veränderung und Verbesserung fähig: Elend und Roheit werden angegriffen, das Leben durchgängig in rascheren Fluß versetzt und zu mehr Fülle und Freude gebracht. Den Kern des neuen Lebens bildet aber die Arbeit, das heißt die Tätigkeit, welche den Gegenstand ergreift und ihn für den Menschen bereitet; was von altersher davon vorlag, das hat die Neuzeit erheblich dadurch gesteigert, daß ihr die Arbeit weit mehr über die Kräfte und Zwecke der Individuen hinauswächst, ja durch Bildung eigener Zusammenhänge eine Selbständigkeit gegen den Menschen erlangt. So zeigen es Wissenschaft und Technik, so zeigen es auch politisches und soziales Wirken; sie alle machen den Menschen zum Gliede eines Arbeitsganzen, dessen Forderungen er unbedingt nachkommen muß. In solcher Unterordnung der Einzelnen gewinnt das Ganze eine gewaltige Macht, es faßt das Nebeneinander der Kräfte und das Nacheinander der Zeiten zu gemeinsamem Wirken zusammen, das in sicherem Zuge vordringt und keine Grenze als endgültig anerkennt. So gewinnt die Menschheit einen frischen Mut und ein stolzes Selbstvertrauen, sie entwickelt in ihrem eigenen Bereich ein mannhaftes, klares, zielbewußtes Leben, das auch zu entsagen vermag, aber durch das Entsagen keineswegs niedergedrückt wird. Denn für alles, worauf zu verzichten ist, scheint der Gewinn an Sicherheit und an Wahrhaftigkeit vollen Ersatz zu bieten. Unerschütterlich fest scheint der Boden, der hier die Arbeit trägt, alle Einbildungen und Vorurteile, die gleich trübem Nebel die Dinge umhüllten, sind gewichen und machen hellem Sonnenlicht Platz, die Tätigkeit findet nach allen Seiten ein offenes und unbegrenztes Feld; so scheint erst hier das Leben sich selbst und seine Kraft zu finden, von einem Schlummerstand in volle Wachheit überzugehen. Alles Wirken hat dabei den Reiz eines frischen Sehens und selbständigen Entdeckens. Dürfen wir uns wundern, daß dieses Leben eine starke Anziehungskraft ausübt, und daß ihm das Goethewort zugute kam.

      »Er stehe fest und sehe hier sich um,

      Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm«?

      Die Wendung vom allgemeinen Gedanken zur näheren Durchführung ließ jedoch ersehen, daß das hier gebotene Leben keineswegs einfach ist. In zwei Bereichen liegt uns das Dasein vor: in der Natur und im Menschheitsleben. Jeder dieser Bereiche läßt sich zur Hauptsache machen, jeder kann von sich aus eine allumfassende Lebensordnung zu bilden suchen. So entspringen aus dem gemeinsamen Grunde zwei verschiedene Lebensströme und wollen gesondert behandelt sein. Es sei zunächst als der einfachere derjenige behandelt, dem das Verhältnis des Menschen zur Natur als das Grundverhältnis seines Lebens gilt.

      Die Lebensordnung des Naturalismus

      Eine Lebensordnung des Naturalismus konnte nicht entstehen, bevor das Bild der Natur alles Fremdartige ausgeschieden und seine Eigentümlichkeit deutlich ausgeprägt hatte; das aber ist zuerst seit Beginn der Neuzeit geschehen. In Abweisung aller religiösen und spekulativen Deutung wird hier zum Ziel der Forschung die Erfassung der Natur in ihrer reinen und bloßen Tatsächlichkeit; hier entsagt jene aller inneren Eigenschaft und allem seelenartigen Streben und verwandelt sich in ein Reich unbeseelter Massen und Bewegungen, das sich in festen Zusammenhängen und unwandelbaren Ordnungen darstellt, ohne dem Menschen eine besondere Stellung einzuräumen und ihn zum Gegenstand besonderer Sorge zu machen. Von Anfang an bestand viel Neigung, dies Reich der Natur für das Ganze der Wirklichkeit auszugeben und zugleich alle Wissenschaft nach Art der Naturwissenschaft zu gestalten; schon Bacon (1561 bis 1626) nannte die Naturwissenschaft »die große Mutter und die Wurzel alles Erkennens«, diese Neigung hat immer mehr Boden gewonnen und Naturbegriffe immer tiefer in alle Gebiete eindringen lassen, so daß heute »naturwissenschaftliche Weltanschauung« vielen als Weltanschauung überhaupt gilt. Um sich so zum All zu erweitern, mußte die Natur auch den Menschen an sich zu ziehen und ganz und gar in sich aufzunehmen suchen. Das konnte so lange nicht gelingen, als eine unübersteigbare Kluft Ursprung und Wesen des Menschen von der Natur zu trennen schien; aber der Anerkennung einer solchen Kluft hat die Naturwissenschaft immer entschiedener widersprochen, sie hat immer mehr verbindende Fäden aufgewiesen, bis die moderne Entwicklungslehre eine völlige Verkettung herzustellen schien.

      Gehört aber

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