Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке. Александр Иличевский
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Nadja räkelte sich im Schlaf, brabbelte etwas, heftig und aufgebracht, war dann wieder still.
Ohne seine Körperhaltung zu ändern, tastete er nach den Zigaretten. Der Rauch wallte auf, lockte sich, rankte in die Höhe und legte sich als Gaze über die Luke zum Treppenhaus.
Die Asche fiel auf Nadjas Schuh und kullerte unter den Schnürsenkel. Er befeuchtete den Finger, berührte sie, nahm sie auf.
Er blickte Nadja immer an, wenn sie schlief. Wenn sie wach war, wollte er sie nicht so anschauen.
Jetzt versank er in Gedanken: Warum sind Tote schöner als Lebende? Weshalb sind ihre Gesichter, wenn sie nicht mehr durch das Mienenspiel von Wünschen, Ängsten, Freude, Gleichgültigkeit oder Zorn verzerrt sind, so viel klüger, bedeutender, schöner, dass man sie zuweilen gar nicht wiedererkennt? Liegt im Tod etwa die Wahrheit?
Nein, er wusste ganz sicher: Das Leben war wenigstens etwas, jedenfalls mehr als das Loch in einem Gebäckkringel.
Vielleicht verschwinden wichtige Säfte aus Wangen, Muskeln, Stirn und Kinn? Oder wie das Meer bei Windstille besser als bei Seegang, so spiegelt das tote Gesicht den inneren Himmel besser wider?
Wadja kniff die Augen zu, zwang sich dann aber, sie wieder zu öffnen. Er konnte sich Nadja nicht tot vorstellen. Statt ihrer lag vor seinen Augen kein Dummchen, sondern eine fremde Schönheit.
Er schaute aus dem Fenster. Versuchte weiter nachzudenken.
Blöd, dass er sie beschimpft. Blöd, dass er sie anschreit. Und völlig sinnlos, dass er sich deswegen Vorwürfe macht. Dadurch schreit er sie nur noch mehr an.
Wadja hatte keinen Vergleich, doch ihm schien, dass das Nachdenken bei ihm ganz gut klappte. Er glaubte, das lag nicht nur an seinem Kopf, sondern auch an der Geschicklichkeit seines ganzen eher kleinen Körpers und der großen Hände, die er wie versuchsweise an die Stirn hob und zur Schläfe führte. Es war schwer auszudrücken – bemüht, noch ein bisschen weiterzudenken, bewegte er versuchsweise die Lippen, als würde er mithelfen, einen daran festklebenden, schwerelosen Fussel auf die Zunge zu saugen. Das Denken begann für ihn immer mit etwas, das gerade zur Hand war, und entwickelte sich über den Zusammenklang des Körpervolumens mit seiner direkten Umgebung, über eine gewisse Reichweitenstrahlung, die dem Körper erlaubte, sich auf Gebiete auszudehnen, die derart entfernt waren, dass dort, am Rand, Rückströmungen der Zeit erfasst wurden. Wadja war der Meinung, dass sich Raum und Zeit nur hier – um Arme, Augen, Beine herum – aneinander rieben. Weiter davon entfernt drückten sie sich vor ihrem Joch, schlugen Kapriolen, die mal in die Kindheit, mal zu den Toten führen konnten.
Den Morgen widmete Wadja stets dem Raumzuwachs. Das Denken, das sich wie eine funkelnde, fließende Blase bewegte, betrachtete er mit Ehrfurcht, als auserlesenes Vergnügen. So nannte er das Denken insgeheim auch: Traum.
Ihm gefiel das Wort an sich, doch sein landläufiger Wesenskern war schwer zu greifen. In seiner Kindheit hatte er oft den Film über einen Motorradrennfahrer gesehen, der auf Silbertraum an den Start ging. Dieses Motorrad raste dann durch eine Kristallkugel und blähte sie durch das wüste Kreiseln auf wie der orkanartige Atem eines Glasbläsers.
Er wunderte sich, wie wenig das, was er dachte, den Worten ähnelte, mit denen er es Nadja hätte wiedergeben können. Die Welt des Denkens stellte sich ihm insgesamt als jenseitig dar, als etwas, das der Wahrheit näherkam, und deswegen ging er sparsam damit um, verpulverte es nicht durch groben Gebrauch.
Zunächst stellte er sich vor, was sie an diesem Tag tun würden. Oder er erinnerte sich an seine Kindheit. Oder er dachte darüber nach, wie unfähig Nadja doch war, wie man ihr etwas beibringen, wie man sie lenken könnte.
Nach dem Sieg beim Motorradrennen war der Fahrer tödlich verunglückt.
Jetzt wollte er pinkeln. Aber er wusste, dass er sich das verdrücken musste, denn wenn er es sich nicht verdrückte, würde er zweimal rennen müssen. Er atmete ein. Und aus. Und zündete sich noch eine Zigarette an.
Er hatte den Eindruck, dass er gleich etwas noch Angenehmeres denken würde, und versuchte, nicht alles auf einmal zu denken, sondern mit zusammengekniffenen Augen ins Sonnenlicht zu schauen. Die Sonne erfüllte die Wimpern, breitete sich zu einem Strahlenring aus. Er blinzelte.
Ja, heute würden sie wieder nach Glasstücken suchen gehen. Klasse!
Vor zwei Tagen hatten sie endlich entdeckt, wovon Wadja immer geträumt hatte: einen Schatz.
Wadja tastete in der Hosentasche nach dem Flakon, rieb ihn am Ärmel. Stellte ihn vor sich hin und konnte sich nicht sattsehen. Das derbe, jodfarben schillernde Glas leuchtete auf. Trübes Licht erfüllte das Fläschchen und zerstreute den Lichtkranz, der sich um den Zigarettenqualm gelegt hatte. Die Flakons aus dem Schatz waren bunt – weiß, blau, grün, braun, mit abgenutzten Korken, mit Wappensiegeln, Bildern oder Aufschriften wie APOTHEKE, PHARMACIE. Wahre Kostbarkeiten.
Von klein auf hatte Wadja einen Schatz finden wollen, er sah ihn als Teil eines jenseitigen, verborgenen Lebens. Ums Reichwerden ging es ihm dabei nicht. Wadja hielt die zugängliche Welt für eine Hochburg der Unwahrheit. Er war überzeugt, dass die Wahrheit weit, weit weg war, dass sie wie der Hund begraben lag. Er brauchte weniger den Schatz als vielmehr das helle Bemühen, mit dem er ihn suchte: Wenn er sich auf eine Bank stellte und auf die Vordächer der Hauseingänge schaute, wenn er sich unter Bänke beugte, im Trolleybus automatisch die Hand unter den Sitz führte. Er suchte nichts Wertvolles, sondern schwer Zugängliches, dem allgemeinen Blick Verstelltes, gar Weggeworfenes: Ihn interessierte eine Puderdose, die geborsten und bis aufs blecherne Rund ausgewischt war, oder eine Kinderuhr, die er im Sandkasten auf dem Boulevard aufgelesen hatte – all das betrachtete er lange und stellte sich genau vor, wie der Besitzer des Fundstücks sich freuen würde, darüber, dass ein Teil der Wahrheit zu ihm zurückkehrte. Und legte es dann zur Seite.
Wadja kannte sich mit Müllschätzen aus, im Gegensatz zu Nadja. Sie konnte nicht suchen, hatte kein Interesse an Sachen. Er brummte vergnügt, wenn er etwas Wertvolles fand – noch eine Art, seine zornige Liebe zu stillen …
Vor einem Monat hatte Wadja einen Geistesblitz gehabt[52]. Ihm war klar geworden, dass man Schätze dort suchen muss, wo Erdarbeiten laufen, wo ein Rammbock ächzt, wo ein Presslufthammer kracht, ein Bagger den Bürgersteig schändet, Brecheisen und Schaufel auffliegen, wo ein Kompressor rattert – und Füße sich unsicher über Holzplanken bewegen, über Eisenplatten donnern, ins Rutschen kommen, die Fallmeter erahnen.
Wadja erinnerte sich nebenbei, wie ein Kumpel mal aus dem Graben einer Fernwärmeleitung das Kopfteil eines Bettes herausgefischt hatte; als er das Krönchen von dem Bettpfosten abdrehte, hatte er einen Stapel Silberrubel entdeckt. Und er erinnerte sich an diesen Landstreicher aus dem Dorf Pjatikresty am Fluss Semislawka, nicht weit von Moskau, der sein Haus bei einem Brand verloren hatte. Der Alte hatte erzählt, dass sein Dorf unter Emir Mamai Berühmtheit erlangt hatte, durch sieben Heldentaten von fünf Recken, die einer nach dem anderen auf dem Dorffriedhof die letzte Ruhe gefunden hatten. Dieser Alte hatte erzählt: Als Wasserleute ein Rohr durch seinen Gemüsegarten legten, da hätten sie ein Panzerhemd, einen Helm und einen Unterkiefer ans Tageslicht befördert, und man hätte die Archäologen geholt. Nun fuhr der Alte immer mal in sein Dorf, machte aber um seinen Garten einen Bogen – saß entweder am Fluss oder im Wald auf einer Anhöhe, hatte richtig Angst, sich seiner Heimstätte zu nähern,
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j-d hat einen Geistesblitz (