Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке. Александр Иличевский

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Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке - Александр Иличевский Russische moderne Prosa

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Collagen tummelten sich Raketen und Kosmonauten, Häuser und Kirchen, Traktoren und Türme, Felder und Himmel, Fische und Menschen, Blumen und Dämonen.

      Nadja liebte es, Benja zu beobachten, dessen Beschäftigung sie so gut nachvollziehen konnte. Sie erinnerte sich noch genau, wie ihre Banknachbarin früher mit der Schere geklappert und Samtpapier zerschnitten hatte …

      XII

      Wadja hing nicht gerne bei den Künstlern herum. Er kam gegen Abend und traf Nadja beim Tee an, mit dem Benja sie stets bewirtete. Auch für Wadja fiel von Zeit zu Zeit[30] Tee und Zwieback ab. Der wunderliche Benja stellte ihm eine Tasse hin, beugte sich gewaltig zu dem gedrungenen, großköpfigen Wadja hinab, schaute ihm in die undurchdringlichen Augen und fragte drohend:

      »Was ist? Bist du auch gut zu deinem Mädchen? Ich warne dich! Mach hier keinen Ärger.«

      Nadja wand sich, er hatte so eine laute Stimme, doch Wadja tat, als hätte er ihn nicht bemerkt, als würde dieser Benja für ihn nicht existieren. Wie ein kleiner Bronze- Buddha saß er da mit seinem hohen, welligen Haarschopf, machte einen Buckel und schlürfte mit seinen dicken Lippen pfeifend den Tee.

      Eine der wichtigsten Figuren in dieser halblegalen Kreativgemeinschaft war ein Musiker, ein Gitarrist. Die Seiten zupfend, patrouillierte er mit der Gitarre durch die riesige Wohnung, schleifte dabei das Kabel hinter sich her, das ihn mit den weiter entfernt stehenden Boxen verband, die im Takt mit dem Tonabnehmer klirrten und schepperten.

      Außerdem lebte dort noch ein unglaublicher Typ, der Nadja zu Tode ängstigte. Wadja hingegen empfand ihm gegenüber eine schwer erklärliche Vertrautheit. Er war ein kleiner, schüchterner Mann mit fahlem, spärlichem Haar und harten Gesichtszügen. Mit einem Auge schielte er schrecklich, und wenn er ging, schwankte er unsicher auf seinen krummen Beinen. Um die Stirn hatte er einen Stoffstreifen gebunden, auf dem, sorgfältig mit Kugelschreiber gemalt, ein verzweigtes Schriftzeichen prangte.

      Das eben interessierte Wadja. Zwei Wochen hielt er an sich, dann konnte er nicht mehr. Als Adlerauge (so nannten sie den Mann) an der Stelle vorbeiging, wo Wadja hockte, zog er respektvoll die Brauen hoch und sagte:

      »Hör mal, mein Freund, ich frag mich schon die ganze Zeit: Was leuchtet denn da auf deiner Stirn?«

      Adlerauge hockte sich folgsam zu Wadja, verschränkte die Beine im Lotussitz, tippte sich mit dem Finger an die Stirn und sagte heiser:

      »Das ist der Buchstabe der Elemente. Es steht für Yin und Yang.«

      Wadja riss die Augen auf. Adlerauge rührte sich nicht und fügte dann vielsagend hinzu:

      »Sehr kompliziert.«

      »Erzähl schon, rück raus mit der Sprache.« Wadja nickte ihm zu und legte die Hand ans Ohr.

      »Also Folgendes. In jedem Punkt des Universums gibt es Yin und Yang. Weiß und Schwarz. Und die kopulieren. Schau her.« Adlerauge machte mit den Ellbogen ein paar Wellenbewegungen und nickte. »Und so machen sie es an jedem Punkt der Sphäre unseres Daseins. Da. Und dort. Und hier auch. Im Weltall. Überall. Das Weiße – das Yin – befruchtet das Schwarze – das Yang. Und umgekehrt. Das Glück hängt davon ab, wie oft sie es tun.«

      Wadja schob Adlerauges Finger beiseite, der die Sicht auf die Hieroglyphe nahm.

      »Das heißt, die kopulieren da so richtig?«, fragte Wadja misstrauisch und versuchte zu erfassen, welches bei seinem Gesprächspartner das richtige Auge war.

      »Ja. Aber das Leben, das Glück hängt von der Frequenz ab. Wie schnell sie es machen.«

      Adlerauge wandte seinen Blick dem Musiker zu, der mit der Gitarre in der Hand in den Korridor gestürzt kam.

      »Red weiter, mein Freund, ich höre«, bemühte sich Wadja höflich.

      »Die Frequenz muss folgende sein: eins geteilt durch h quer, das reduzierte Planck’sche Wirkungsquantum.« Adlerauge senkte die Stimme, beschrieb mit der Hand eine gleichmäßige Zickzacklinie und durchkreuzte diese mit der Handkante. »Das ist eine sehr hohe Frequenz.« Er hob vielsagend den Finger.

      Wadja strich sich zerknirscht mit der Hand über die Haare und sagte gedehnt:

      »Verstehe, Freundchen. Na, ich geh dann mal. Pass auf dich auf, mein Freund. Machs gut.«

      Wadja schlug sich aufs Knie und stand auf.

      Der Gitarrist setzte sich schweigend zu Adlerauge, traktierte mit leidender Miene das Griffbrett und nickte mit geneigtem Kopf zum Zimmer mit den Boxen hinüber, die bei seinen klirrenden Passagen mitjaulten.

      XIII

      Wenn Nadja lange allein war, nahm ihr Gesicht nach und nach einen dümmlichen Ausdruck an – ihr Blick wurde starr. Und wenn sie sich mit Mühe an etwas zu erinnern versuchte, wurde sie blass und sah bestürzt drein, oder sie wurde rot und ihr Blick gequält, wie bei jemandem, der einen starken Schmerz unterdrückt. Alleine versuchte Nadja so schnell wie möglich einzuschlafen. War sie sich selbst überlassen, plagte sie eine elende Beschwernis, was sich in einer unsäglichen Unruhe äußerte, zu drängend, um innerlich mit ihr fertigzuwerden. Wenn es mit dem Einschlafen nicht klappte, versuchte sie zu lesen. Sie las Silbe für Silbe alles, was ihr unter die Finger kam – Etiketten, Quittungen. Sie las verbissen, atmete schwer, bewegte lautlos die Lippen, beinahe ohne innezuhalten; sogar Zeitung las sie. Sie riss die Augen weit auf, blinzelte, drehte den Kopf, wandte eine Zeit lang den Blick ab und glich die Wörter mit ihrem Verstand ab.

      Oktober*

      XIV

      Bei den Künstlern blieben sie bis zum Herbst, und als es kalt wurde, fanden sie im Presnja-Viertel einen warmen Dachboden. Der war niedrig, der Boden mit feinem Kies bestreut; man musste auf allen Vieren zwischen den mit Glaswolle umwickelten Heizungsrohren hindurchkriechen, inmitten umhertrippelnder, dumpf gurrender, flügelschlagender Tauben, die einem in der unbequemen Enge immer wieder heftig flatternd gegen die Hand schlugen, gegen Ellbogen, Bauch oder Knie. Auf dem Dachboden wurde vergessenes Gerümpel aufbewahrt: Holzschiffchen, Kreisel, Abakusse, ein Regal, auf dem vertäute Zeitschriftenpacken und von der Feuchtigkeit aufgequollene Bildbände lagen. Doch es war warm, und durch das Dachfenster konnte Nadja den ganzen Tag auf den Fluss schauen, auf die Gebäude der Trjochgorka-Fabrik*, auf die Höfe, die mit ihren Mauern wie Theaterränge die Anhöhe emporkletterten. Zu diesem Zweck hatte sie die Scheibe mit Zeitungspapier abgerieben, bis sie schimmerte wie Bleiglas.

      Die Höfe und der Park beim Gebäude des Obersten Sowjets, einem großen weißen Haus, waren erfüllt von mattem zerstreutem Sonnenlicht, gelben Blättern und leicht bitterem Dunst. Die Tauben girrten, leierten, besprangen einander, hasteten umher oder schliefen, den Kopf unter den Flügeln. Jenseits der Brücke war im diesigen Morgenlicht die Flussbiegung zu sehen; auf der silbrig glänzenden Wasseroberfläche blitzten hier und da scharfe Kanten auf, flogen empor und erfüllten die Luft mit sattem Glanz. An der Uferstraße, unterhalb des pyramidenförmigen Hochhauses*, zitterten die Linden und streuten bunte Blätterschleppen auf die plötzlich gekräuselte Wasseroberfläche des Flusses.

      Von den Bildbänden wählte Nadja einen über Matisse. Sie blätterte darin herum und stieß dabei auf das Offene Fenster. Tagelang betrachtete sie ständig dieses Bild. Den dargestellten Blick aus dem Fenster auf das Meer und die Segelboote stellte sie vor sich auf wie eine Ikone. Für sie war der Bildband so heilig wie ein Gotteshaus.

      Anfang Oktober passierte etwas: Panzer fuhren vor dem Weißen Haus*

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<p>30</p>

von Zeit zu Zeit – время от времени