Namenlos. Уилки Коллинз
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Sobald sie sprechen konnte, stellte sie die unvermeidliche Frage.
– Sie hörten uns, sagte sie. Wo?
– Unter dem offenen Fenster.
– Die ganze Zeit?
– Von Anfang bis zu Ende.
Sie hatte also, dieses Kind von achtzehn Jahren, in der ersten Woche ihrer Verwaistheit die ganze schreckliche Enthüllung belauscht, Wort für Wort, wie sie von des Advocaten Lippen fiel, und hatte sich niemals selbst verrathen! Von Anfang bis zu Ende waren die einzigen Bewegungen, die ihr entschlüpft waren, so vorsichtig und leicht genug gewesen, um mit einem Streichen der Sommerluft durch die Blätter verwechselt zu werden!
– Versuchen Sie noch nicht zu sprechen, sagte sie in sanfterem und milderem Tone. Sehen Sie mich nicht mit so ungläubigen Augen an. Was habe ich Unrechtes gethan? Als Mr. Pendril mit Ihnen über Nora und mich zu sprechen wünschte, ließ uns sein Brief nur eine Wahl, entweder bei der Unterredung zugegen zu sein oder wegzubleiben. Als meine ältere Schwester sich entschloß, wegzubleiben, wie konnte ich da kommen? Wie konnte ich meine eigene Geschichte hören, außer auf die Weise, welche ich ausfindig machte? Mein Lauschen hat kein Unheil angerichtet. Es hat Gutes gewirkt, es hat Ihnen den Schmerz erspart, mit uns zu sprechen. Sie haben schon um uns genug gelitten, es ist Zeit, daß wir unsere Leiden selbst zu tragen lernen. Ich habe es gelernt. Und Nora lernt es auch.
– Nora?!
– Ja. Ich habe Alles gethan, um Sie zu schonen. Ich habe Nora in Kenntniß gesetzt.
Sie hatte Nora in Kenntniß gesetzt! War dieses Mädchen, dessen Muth die schreckliche Nothwendigkeit ins Auge gefaßt hatte, vor der ein Weib, welches alt genug war, um deren Mutter sein zu können, zurück gebebt war, das Mädchen, das Miss Garth auferzogen hatte? Das Mädchen, dessen Charakter und Wesen sie so gut als ihren eigenen zu kennen glaubte?
– Magdalene rief sie leidenschaftlich aus, Sie erschrecken mich!
Magdalene seufzte nur und wandte sich matt hinweg.
–Versuchen Sie nicht, Schlimmes von mir zu denken, als ich verdiente, sagte sie. Ich kann nicht weinen. Mein Herz ist starr geworden.
Sie hob sich langsam über das Gras hinweg. Miss Garth folgte mit den Augen der großen schwarzen Gestalt, wie sie allein hinweg schwebte, bis sie unter den Bäumen verschwand. So lange dieselbe in Sicht war, konnte sie nichts Anderes denken. In dem Augenblicke, daß sie fort war, dachte sie an Nora. Zum ersten Male, so lange sie die Schwestern kannte, drängte sie ihr Herz in dunklem Gefühle zu der älteren von den Beiden hin.
Nora war noch auf ihrem Zimmer. Sie saß auf dem Divan am Fenster, das Notenbuch ihrer Mutter auf dem Schooße aufgeschlagen, die Mappe, welche Mrs. Vanstone in ihres Gatten Arbeitszimmer gefunden hatte. Sie schaute auf von derselben mit so ruhigem Kummer und zeigte mit so ungezwungener Freundlichkeit auf den leeren Platz an ihrer Seite, daß Miss Garth einen Augenblick ungewiß war, ob Magdalene die Wahrheit gesprochen hätte.
– Sehen Sie, sagte Nora einfach, indem sie das erste Blatt des Notenbuchs umwandte. Meiner Mutter Namen darin geschrieben, auf der andern Seite einige Verse an meinen Vater. Wir wollen Dies für uns behalten, wenn wir auch sonst Nichts behalten.
Sie legte ihren Arm um Miss Garths Nacken, und ein schwacher Anflug von Farbe flog leise über ihre Wangen.
– Ich sehe ängstliche Gedanken in Ihrem Gesichte, flüsterte sie. Sind Sie um mich in Angst? Zweifeln Sie, daß ich es vernommen habe? Ich habe die ganze Wahrheit gehört. Ich möchte sie später bitterer empfunden haben, jetzt ist es noch zu bald, um sie schon zu fühlen. Sie haben Magdalenen gesprochen? Sie ging, um Sie zu suchen,… wo verließen Sie die Schwester?
– Im Garten. Ich konnte nicht mit ihr sprechen, ich konnte sie nicht ansehen. Magdalene hat mich erschreckt.
Nora erhob sich schnell, erhob sich, durch Miss Garths Antwort aufgeschreckt und bekümmert.
– Denken Sie nicht schlimm von Magdalenen, sagte sie. Magdalene leidet im Stillen mehr, als ich. Machen Sie sich keinen Kummer über Das, was Sie diesen Morgen über uns gehört haben. Was kommt darauf an, wer wir sind, oder was wir behalten oder verlieren? Was für einen Verlust gibt es für uns jetzt nach dem Verlust von Vater und Mutter? Ach, Miss Garth, Das ist der einzige Schmerz! An was dachten wir, als wir sie gestern ins Grab senkten? An die Liebe, die sie uns schenkten, die Liebe, auf welche wir niemals wieder hoffen dürfen. An was Anderes können wir heute denken? Welche Veränderung können die Welt und die grausamen Gesetze der Welt in unserer Erinnerung an den liebreichsten Vater, die liebevollste Mutter, deren sich je Kinder erfreut haben, hervorbringen?…
Sie hielt inne, kämpfte mit ihrem Herzensjammer und zwang ihn ruhig und entschlossen nieder.
– Wollen Sie hier warten? sagte sie, indeß ich gehe und Magdalenen zurückbringe? Magdalene war immer Ihr Liebling. Ich will, daß sie noch jetzt Ihr Liebling sei.
Sie legte das Notenbuch sanft auf Miss Garths Schooß und verließ das Zimmer.
– Magdalene war immer Ihr Liebling.
So liebevoll diese Worte gesprochen waren, so drangen sie doch wie ein Vorwurf in Miss Garths Ohr. Zum ersten Male in der langen Gemeinschaft zwischen ihr und ihren Schützlingen drang sich ihrem Geiste ein Zweifel auf, ob sie und Alle um sie her sich nicht verhängnißvoll geirrt hätten in ihrer gegenseitigen Abschätzung der Schwestern. Sie hatte die Naturen der beiden Schützlinge in dem täglichen Umgange eines Zeitraumes von zwölf Jahren erforscht. Diese Naturen nun, welche sie, wie sie glaubte, in all ihren Tiefen ergründet hatte, waren nun auf einmal in dem ernsten Gottesgericht des Unglücks auf die Probe gestellt worden. Wie waren sie aus der Prüfung hervorgegangen? Wie ihre frühere Erfahrung sie vorbereitet hatte, sie hervorgehen zu sehen? Nein, in geradem Gegentheil.
Was war die nächste Folge einer solchen Wirkung?
Gedanken kamen ihr, als sie sich selber die Frage verlegte, welche uns Alle selbst betroffen gemacht und betrübt haben.
Gibt es in jedem menschlichen Wesen unter dem äußerlichen und sichtbaren Charakter, welcher durch die uns umgebenden gesellschaftlichen Einflüsse eine bestimmte Form angenommen hat, noch eine tief innere, Unsichtbare Anlage, welche einen Theil unseres Selbst bildet, welche die Erziehung mittelbar verändern, aber nimmermehr ganz umzuwandeln hoffen darf? Wenn irgend welche Philosophen Dieses leugnen und behaupten, daß wir mit Anlagen geboren werden, welche einem Blatte unbeschriebenen Papieres gleichem ist diesen Philosophen nicht entgangen, daß wir auch nicht mit unbeschriebenen Gesichtern geboren werden, haben diese Philosophen niemals zwei Kinder, die nur wenige Tage alt sind, mit einander verglichen und bemerkt, daß diese Kinder nicht geboren sind mit unbeschriebenen Charakteren, denen erst Mütter und Ammen einen Inhalt zu geben brauchen? Gibt es unendlich verschieden bei jedem Einzelwesen tief angeborene gute und böse Mächte in uns Allen, fern entrückt dem Einflusse sterblicher Ermunterung und sterblicher Bekämpfung, verborgenes Gutes und Verborgenes Schlimmes, Beides gleichmäßig nur auf die Gelegenheit harrend, die es frei macht, und auf die Versuchung, welche gerade stark genug ist? Sind innerhalb dieser irdischen Schranken die Umstände immer der Schlüssel, und kann uns keine menschliche Wachsamkeit vor den in uns gefangen gehaltenen Mächten, welche jener Schlüssel freilassen kann, vorher warnen?
Zum ersten Male erhoben sich Gedanken dieser Art dunkel in Miss Garths Seele, wie schreckliche und