Der scharlachrote Buchstabe. Hawthorne Nathaniel
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»Gott sei uns gnädig, Gevatterin!« rief ein Mann aus der Menge; »gibt es denn bei den Weibern keine Tugend, außer jener, die einer heilsamen Furcht vor dem Galgen entspringt? Das ist das härteste Wort, was noch gesprochen worden ist. Jetzt still, Basen, der Schlüssel dreht sich in der Gefängnistür und hier kommt Frau Prynne selbst.«
Die Tür des Gefängnisses wurde von innen aufgerissen, es zeigte sich zuerst, gleich einem schwarzen, in den Sonnenschein hinaustretenden Schatten, die Schreckensgestalt des Stadtbüttels, Degen an der Seite und Amtsstab in der Hand. Diese Person verkündete und stellte in ihrer Erscheinung die ganze düstere Strenge des puritanischen Gesetzkodex dar, welchen in seiner letzten und den Übertreter zunächst berührenden Anwendung zur Ausübung zu bringen sein Amt war. Er streckte den Amtsstab in seiner linken Hand aus und legte seine rechte auf die Schulter einer jungen Frau, die er so vorwärts zog, bis sie ihn auf der Schwelle der Gefängnistür mit einer Gebärde voll natürlicher Würde und Charakterstärke zurückstieß und wie aus eigenem Antriebe in die freie Luft hinaustrat. Auf ihren Armen trug sie ein Kind, einen etwa drei Monate alten Säugling, der blinzelnd sein kleines Gesicht von dem zu hellen Lichte des Tages abwandte, weil ihn seine Existenz bisher nur mit dem grauen Zwielicht eines Kerkers oder andern düstern Gemaches im Gefängnis bekannt gemacht hatte.
Als die junge Frau, die Mutter dieses Kindes, der versammelten Menge vollkommen sichtbar wurde, schien es ihr erster Impuls zu sein, das Kind dicht an ihren Busen zu schließen, nicht sowohl von mütterlicher Zärtlichkeit getrieben, als um dadurch ein gewisses Zeichen zu verbergen, das in ihr Gewand gewirkt oder daran befestigt war. Im nächsten Augenblick schloß sie jedoch, daß ein Zeichen der Schande nur schlecht dazu dienen würde, ein anderes zu verbergen, nahm das Kind auf ihren Arm und schaute mit brennendem Erröten und doch stolzem Lächeln und einem Blick, der sich nicht einschüchtern lassen wollte, auf ihre Mitbürger und Nachbarn ringsum. Mitten auf dem Brustteile ihres Gewandes zeigte sich, von feinem rotem Tuch geschnitten und mit prächtig gestickten phantastischen Schnörkeln von Goldfäden umgeben, der Buchstabe A, der Anfangsbuchstabe von Adulteress = Ehebrecherin. Er war so kunstvoll und mit so fruchtbarer üppiger Phantasie eingestickt, daß das Ganze wie ein passender letzter Zierat des Gewandes aussah, welches sie trug, und das von dem Geschmack der Zeit entsprechender, aber weit über das von den Aufwandsgesetzen der Kolonie Erlaubte hinausgehender Pracht war.
Die junge Frau war hochgewachsen und besaß eine Gestalt von vollkommener Eleganz im großen Maßstabe. Sie hatte dunkles, üppiges Haar von solchem Glanze, daß es den Sonnenschein schimmernd zurückwarf, und ein Gesicht, das, nicht bloß durch regelmäßige Züge und warme Farbe schön, auch noch den eindrucksvollen Charakter besaß, welchen eine wohlgeformte Stirn und tiefschwarze Augen verleihen. Überdies sah sie vornehm aus, wie man bei den Frauen jener Zeit die Vornehmheit verstand, das heißt, sie besaß mehr eine gewisse Stattlichkeit und Würde als die zarte, vergängliche und unbeschreibliche Grazie, welche heutzutage als ihre Zeichen gelten. Und nie hatte Esther Prynne vornehmer in diesem alten Sinne des Ausdrucks ausgesehen, als da sie aus dem Gefängnisse trat. Die sie früher gekannt und erwartet hatten, daß ihre Schönheit durch die Wolke des Unglücks getrübt und verdunkelt werden würde, waren erstaunt, ja entsetzt, als sie bemerkten, wie diese hervorleuchtete und das Unglück und die Schmach, worin sie gehüllt war, wie eine Glorie um sie erstrahlen ließ. Zwar lag darin für einen empfindenden Beobachter etwas ausgesucht Schmerzliches. Ihre Kleidung, die sie für diesen Anlaß im Gefängnisse selbst gefertigt und ganz nach ihrer Phantasie angeordnet hatte, schien die Lage ihres Geistes, die verzweifelte Gleichgültigkeit ihrer Stimmung, durch eine wilde, malerische Eigentümlichkeit auszudrücken; aber der Punkt, welcher aller Augen anzog und sozusagen die Trägerin verwandelte, war das Zeichen, so daß Männer sowohl wie Frauen, welche mit Esther Prynne in vertrauter Bekanntschaft gewesen waren, jetzt den Eindruck empfingen, als erblickten sie sie zum ersten Male mit dem so phantastisch gestickten und auf ihrem Busen leuchtenden Scharlachbuchstaben. Er hatte die Wirkung eines Zaubers, nahm sie aus den gewöhnlichen Verhältnissen und Verbindungen mit der Menschheit und hüllte sie in eine eigene Sphäre.
»Sie hat viel Geschicklichkeit mit der Nadel, das ist gewiß«, bemerkte eine der Zuschauerinnen, »hat aber je ein Frauenzimmer vor dieser schamlosen Dirne eine solche Weise, es zu zeigen, ausfindig gemacht? Nein, Gevatterinnen, wozu dient es, als um unsern wackern Richtern ins Gesicht zu lachen und auf das, was jene, die würdigen Herren, zur Strafe auferlegten, sich etwas zugute zu tun.«
»Es wäre gut«, krächzte das Weib mit dem eisernsten Gesicht, »wenn wir der Madam Esther ihr reiches Kleid von den zarten Schultern rissen, und was den roten Buchstaben betrifft, den sie so absonderlich eingenäht hat, so will ich einen Fetzen von meinem Rheumatismusfell hergeben, um einen passenderen daraus zu machen.«
»Friede, Nachbarinnen, Friede!« flüsterte ihre jüngste Genossin; »laßt sie das nicht hören! In dem gestickten Buchstaben ist kein Stich, den sie nicht in ihrem eigenen Herzen gefühlt hätte.«
Jetzt machte der finstere Büttel eine Bewegung mit dem Stabe.
»Macht Platz, gute Leute, macht Platz – im Namen des Königs!« rief er; »öffnet einen Durchgang und ich verspreche euch, daß Esther Prynne an einen Ort gestellt werden soll, wo Mann, Weib und Kind von jetzt an bis eine Stunde nach Mittag eine gute Aussicht auf ihre schöne Kleidung haben sollen. Gesegnet sei die rechtschaffene Kolonie von Massachussets, wo die Bosheit an den Sonnenschein gezogen wird. Kommt voran, Madam Esther, und zeigt Euren Scharlachbuchstaben auf dem Marktplatz!«
Sofort öffnete sich eine Gasse unter der Zuschauermenge. Unter dem Vorgange des Büttels und in Begleitung einer unregelmäßigen Prozession von finsterblickenden Männern und Weibern mit unfreundlichen Gesichtern brach Esther Prynne nach dem für ihre Strafe bestimmten Platz auf. Neugierige Schuljungen, die von der Sache wenig mehr verstanden, als daß sie einen halben Feiertag dadurch erhielten, liefen vor dem Zuge her und wendeten beständig den Kopf zurück, um in ihr Gesicht und auf das blinzelnde Kind in ihren Armen und den schmachvollen Buchstaben an ihrer Brust zu gaffen. Zu jener Zeit war die Entfernung von der Gefängnistür nach dem Marktplatze nicht groß. Nach der Erfahrung der Gefangenen zu messen, konnte sie jedoch für eine Reise von einiger Länge gelten, da sie, so hochfahrend ihr Benehmen auch war, wohl bei jedem Schritte jener, welche sich herbeidrängten, um sie zu sehen, eine Qual erlitt, als ob ihr Herz auf die Straße geworfen worden sei, damit sie alle darauf treten und es mit den Füßen von sich stoßen konnten. In unserer Natur liegt jedoch die ebenso wunderbare wie gnädige Vorkehrung, daß der Leidende das Äußerste, was er erduldet, nie an seiner gegenwärtigen Qual, sondern hauptsächlich an dem danach zurückbleibenden Schmerze erkennt. Esther schritt daher mit fast heiterer Haltung durch diesen Teil ihrer Prüfung und gelangte zu einer Art von Schandbühne am westlichen Ende des Marktplatzes. Sie stand fast gerade unter dem Giebel der ersten Kirche von Boston und schien dort niet- und nagelfest zu sein.
Wirklich bildete diese Bühne einen Teil von einer Strafmaschinerie, welche jetzt seit zwei bis drei Generationen bei uns nur noch historisch und durch die Sage bekannt ist, aber in den alten Zeiten für ein so wirksames Hilfsmittel zur Beförderung des guten Benehmens der Bürger galt, wie nur je die Guillotine unter den Schreckensmännern von Frankreich; kurz, es war die Bühne des Prangers, und über ihr erhob sich das Gestell dieses Disziplinarwerkzeuges, welches so geformt war, daß es den menschlichen Kopf umfaßte und ihn so den Blicken des Publikums hinhielt. In diesem Gerüste von Holz und Eisen verkörperte und offenbarte sich ein Ideal von Schmach. Ich glaube, daß es gegen unsere gemeinschaftliche Natur, was auch die Vergehen des Individuums sein mögen, keine größere Mißhandlung geben kann, als dem Schuldigen zu verbieten, sein Gesicht vor Scham zu verbergen, wie es das Wesen dieser Strafe ist. In Esther Prynnes Falle lautete jedoch, wie es nicht selten auch bei anderen vorkam, der Spruch nur darauf, daß sie eine gewisse