Fräulein oder Frau. Уилки Коллинз
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Während Natalie wieder zu ihrem Messer griff, um neue Zeichen vorzubereiten, fuhr Sir Joseph in seiner Erzählung fort: »Wir waren beide unten in der Kajüte beschäftigt, unser Mittagessen zu beenden, als wir plötzlich durch den auf dem Verdeck erschallenden Ruf: ‚Ein Mann über Bord!‘ erschreckt wurden. Wir liefen beide die Kajütentreppe hinauf, natürlich in der Besorgnis, daß einer von unserer Mannschaft über Bord gefallen sei: eine Besorgnis, die, wie ich hinzufügen muß, von dem Steuermann, der den Ausruf getan hatte, geteilt wurde.«
Sir Joseph hielt wieder inne. Er näherte sich einem der spannendsten Momente seiner Erzählung und wollte diesen Moment natürlich gern möglichst ergreifend wiedergeben. Den Kopf auf die Seite geneigt, überlegte er einen Augenblick. Fräulein Lavinia hielt ihren Kopf ein wenig auf die andere Seite geneigt, und überlegte ihrerseits auch ein wenig.
Natalie legte ihr Messer wieder nieder und berührte Launce mit der Fußspitze unter dem Tisch. Dieses Mal lagen fünf Stückchen Schinken in einer waagerechten Linie auf dem Teller und ein Stück unmittelbar unter der Mitte dieser Linie. In der Zeichensprache bedeutete diese Figur zwei verhängnisvolle Worte: »Schlechte Nachrichten!« Launce sah mit einem bedeutungsvollen Blick nach dem Besitzer der Yacht hinüber und fragte damit: »Steckt er dahinter?« Nataliens Antwort bestand in einem Zusammenziehen ihrer Brauen, und das hieß: »Allerdings!« Launce sah wieder nach dem Teller. Sofort schob Natalie die sämtlichen Stückchen Schinken zu einem Haufen zusammen und sagte damit: »Ich habe nichts mehr zu sagen.« –
»Nun?« sagte Richard Turlington zu Sir Joseph gewandt in scharfem Tone, »fahre fort mit deiner Geschichte. Was kommt nun?«
Bis jetzt hatte er es nicht der Mühe wert gehalten, auch nur scheinbar ein höfliches Interesse an der fortwährend unterbrochenen Erzählung seines alten Freundes zu nehmen. Erst bei den letzten Worten Sir Josephs, als er zu verstehen gab, daß es sich im Verlauf seiner Erzählung vielleicht ergeben werde, daß der über Bord gefallene Mann keiner von der Mannschaft des Lotsenbootes gewesen sei – erst bei diesen Worten lehnte sich Turlington in seinem Stuhl zurück und gab zu erkennen, daß er plötzlich ein lebhaftes Interesse an dem Fortgang der Erzählung nehme.
Sir Joseph fuhr fort: »Sobald wir aufs Verdeck kamen, sahen wir den Mann im Wasser hinter dem Schiff. Unser Rettungsboot wurde herabgelassen und der Kapitän und einer von der Mannschaft stiegen hinein und ergriffen die Ruder. Unsere Mannschaft bestand alles in allem aus sieben Mann. Davon waren zwei eben ins Rettungsboot gestiegen, ein Dritter war am Steuer und die übrigen vier standen hinter mir, so daß uns also in der Tat niemand von unserer Mannschaft fehlte. In demselben Augenblick rief Mahagony—Dobbs, der eben durch ein Fernglas sah: ‚Wer zum Teufel kann das sein? Der Mann treibt auf einem Hühnerkorb und wir haben gar keinen solchen Korb an Bord gehabt.‘«
Der einzige unter den Anwesenden, der, als Sir Joseph diese Worte aussprach, zufällig Richard Turlingtons Gesicht beobachtete, war Launcelot Linzie. Er, und nur er sah, wie die dunkle Gesichtsfarbe des levantinischen Kaufmanns sich allmälig in ein fahles Aschgrau verwandelte, während seine Augen mit einem unheimlichen Glanz, wie er dem Blicke wilder Bestien eigen ist, auf Sir Joseph Graybrooke geheftet waren. Obgleich er Launce nicht ansah, wurde er doch offenbar gewahr, daß dieser ihn beobachte, stützte daher seinen Ellenbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hand, um denselben so, während die Erzählung ihren Fortgang nahm, wirksam gegen die Beobachtung des jungen Arztes zu schützen.
»Der Mann wurde an Bord gebracht«, fuhr Sir Joseph fort, »und zwar wirklich mit einem Hühnerkorbe, auf dem er getrieben hatte. Der arme Kerl war blau vor Angst und Kälte; als wir ihn aufs Deck hoben, wurde er ohnmächtig. Als er wieder zu sich kam, erzählte er uns eine gräßliche Geschichte. Er war ein kranker, hilfloser Matrose gewesen und hatte sich in dem Schiffsraum eines englischen Schiffes versteckt, das nach einem Hafen seines Vaterlandes bestimmt, und an jenem Morgen von Liverpool abgesegelt war. Bald nach der Abfahrt war er entdeckt und vor den Kapitän gebracht worden. Der Kapitän, ein Ungeheuer in menschlicher Gestalt —«
Noch ehe Sir Joseph ein Wort weiter sagen konnte, erschreckte Turlington die kleine Gesellschaft in der Kajüte, indem er mit den Worten aufsprang: »Die Brise, endlich die Brise!« Dabei eilte er nach der Kajütentüre, so daß er seinen Gästen den Rücken zukehrte und lief aufs Verdeck. »Woher kommt der Wind?«
»Es ist keine Spur von Wind, Herr«, gab der Steuermann zur Antwort.
Auch in der Kajüte war nicht die geringste Bewegung des Schiffs bemerklich und kein Ton vernehmbar gewesen, der das Aufkommen des Windes verkündet hätte. Das war sicherlich ein sonderbares Mißverständnis von Seiten des Eigentümers der Yacht, eines seegewohnten Mannes, der erforderlichenfalls sein eigenes Schiff hätte führen können. Er kehrte zu seinen Gästen zurück und entschuldigte sich mit einer übertriebenen Höflichkeit, die ihm zu andern Zeiten und bei andern Gelegenheiten durchaus nicht eigen war.
»Fahre fort«, sagte er zu Sir Joseph, als er mit seinen Entschuldigungen zu Ende war, »ich habe in meinem ganzen Leben noch keine so interessante Geschichte gehört. Bitte, fahre fort!«
Aber anstatt die beiden harmlosen, alten Leute zu ermutigen, erschreckte er sie, als er sich ihnen in einer fast herausfordernden Stellung gegenübersetzte, die Ellenbogen vor sich auf den Tisch legte, und sie mit dem Ausdruck einer finstern Entschlossenheit ansah, als wolle er zu erkennen geben, daß er bereit sei, nötigenfalls den Rest seines Lebens da zu sitzen und zuzuhören. Launce verstand es, Sir Joseph wieder in Gang zu bringen, indem er seinen Onkel fragte: »Sie wollen doch nicht sagen, daß der Kapitän jenes Schiffes den Mann habe über Bord werfen lassen?«
»Allerdings, Launce! Der arme Bursche war zu krank gewesen, um seine Passage abzuarbeiten. Der Kapitän hatte erklärt, er wolle keinen fremden Tagedieb an Bord haben, welcher fleißigen Engländern ihre Vorräte aufzehre. Mit eigenen Händen warf er den Hühnerkorb in das Wasser und mit Hilfe eines seiner Matrosen den Mann hinterher, indem er ihm zurief, er möge mit der Abendluft wieder nach Liverpool treiben.«
»Das ist eine Lüge!« rief Turlington, nicht gegen Sir Joseph, sondern gegen Launce gewandt.
»Kennen Sie die Geschichte?« fragte Launce ruhig.
»Ich weiß nichts von der Geschichte, sonder weiß nur aus eigener Erfahrung, daß fremde Matrosen noch größeres Gesindel sind, als englische Matrosen. Der Kerl war ohne Zweifel verunglückt. Seine ganze Geschichte aber war offenbar erlogen, um Sir Josephs Mitleid zu erregen.«
Sir Joseph schüttelte sanft den Kopf.
»Das war keine Lüge, Richard. Es ist durch Zeugen bewiesen, daß der Mann die Wahrheit gesprochen hat.«
»Zeugen? Pah! Andere Lügner, willst du sagen.«
»Ich ging zu den Eigentümern des Schiffes«, fuhr Sir Joseph fort. »Ich erfuhr von ihnen die Namen der Schiffsoffziere und der Mannschaft, und zeigte den Fall bei der Liverpooler Polizei an. Das Schiff scheiterte an der Mündung des Amazonenflusses, aber Mannschaft und Ladung wurden gerettet. Die Mannschaft, die nach Liverpool gehörte, kehrte dahin zurück. Das war böses Volk, das könnt ihr mir glauben! Aber sie wurden jeder einzeln über die Behandlung des fremden Matrosen vernommen und sagten ganz übereinstimmend aus. Von ihrem Kapitän und dem Matrosen, der ihm bei dem Verbrechen behilflich gewesen war, wußten sie nichts, als daß dieselben sich auf dem Schiffe, das die übrige Mannschaft nach England zurückgebracht habe, nicht mit eingeschifft hätten. Was auch seitdem aus dem Kapitän geworden sein mag, gewiß ist, daß er nie nach Liverpool zurückkehrte.«
»Hast du seinen Namen herausgebracht?« fragte Turlington. Selbst