Der eiserne Gustav. Hans Fallada

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Der eiserne Gustav - Hans Fallada страница 44

Der eiserne Gustav - Hans  Fallada Hans-Fallada-Reihe

Скачать книгу

Redensart »Scheintot im Massengrab« eigentlich bedeutete.

      Sie hatte mit Otto unter den anderen gelegen, lebendig unter Toten, und sie hatte versucht, sich hervorzuwühlen … Oh, wie konnten die Menschen einander quälen! Wie konnte jemand, der ein Herz hatte, so etwas sagen?! Atemlos starrte sie in das Dunkel und versuchte, die grauenhaften Bilder aus sich zu vertreiben.

      Der dritte Traum aber war fast schön gewesen. Denn sie hatte neben Otto gesessen in einem frühlingsgrünen Walde, und Otto hatte aus der Tasche seines feldgrauen Rockes eine lange Flöte gezogen und hatte gesagt: Die habe ich geschnitzt. Jetzt will ich dir etwas vorspielen!

      Er hatte zu spielen angefangen, und bei seinem Spiel waren aus jedem Schalloch der Flöte Vögel geschlüpft. Und die Vögel waren auf der Flöte sitzen geblieben und hatten zu seinem Spiel zu zwitschern und zu singen angefangen. Das hatte unfaßbar schön geklungen. Sie hatte sich immer näher an ihn gelehnt, und schließlich hatte sie ihn umgefaßt. Da hatte er gesagt: Du darfst mich aber nicht zu sehr anfassen. Du weißt doch, daß ich gestorben und nur noch Asche und Staub bin, Tutti?

      Sie hatte es wirklich gewußt, aber nur noch fester hatte sie ihn angefaßt. Da war er in ihren Armen zergangen, wie ein leichter Nebel war er durch den Frühlingswald verweht, ganz in der Ferne hörte sie noch sein Flötenspiel und das Zwitschern und Singen der Vögel.

      Davon war sie aufgewacht. Der Sturm vor den Fenstern hatte sich etwas gelegt. Die Weckuhr zeigte auf halb fünf. Es war Zeit aufzustehen!

      2 Vor einem Fleischerladen

      Frierend stand Gertrud Gudde in dem eisigen Zimmer. Verlangend sah sie zum Ofen, aber sie wußte, sie würden den ganzen Tag frieren müssen, wenn sie jetzt schon heizte. Erst in der nächsten Woche gab es wieder Briketts – sie hatte schon zuviel verbraucht.

      Schließlich nahm sie eine Zeitung, ballte sie zusammen und steckte sie in das Ofenloch. Der Anblick des flammenden Papiers tat ihr gut; die feurige Lohe täuschte ein Gefühl von Wärme vor. Sie wusch sich, indes das Papier im Ofen schon längst schwarz geworden war, und fuhr in Kleider und Mantel.

      Einen Augenblick noch stand sie am Bett von Gustäving. Das Kind schlief fest, aber es würde nicht bis zu ihrer Rückkehr fortschlafen: Der Hunger würde es wecken. So nahm sie aus dem Küchenschrank ein Brot und schnitt ein Stück ab, dessen Größe sie sorgenvoll überlegte. Es war klein und doch eigentlich zu groß. Aus Bindfaden machte sie eine Schlinge und hängte das Brot an die Bettleiter.

      Sie lächelte, als sie daran dachte, wie sehr Gustäving sich über diesen Morgengruß freuen würde. Er war wie sein Vater: Er würde das Brot langsam und mit Bedacht essen, viele Male kauend. Obwohl es kein Friedensbrot von reinem Geschmack war, sondern Kriegsbrot mit klitschigem Kartoffelstreifen. Manche sagten, es werde Holzmehl und Sand in das Brot gemengt – aber das mußte nicht wahr sein, es war auch so schlimm genug.

      Sorgfältig schloß sie die Schranktür ab und steckte den Schlüssel zu sich. So klein Gustäving noch war, der Hunger machte auch die Kleinsten erfinderisch. An einem nicht sehr weit zurückliegenden Morgen hatte er den Schrank aufbekommen: Es waren schreckliche Tage gewesen danach. Daß man selbst stets hungrig war, daran war man längst gewöhnt. Daß man seinem Kinde aber nicht einmal das Allernotwendigste geben konnte …

      »Ich kann doch mein Kind nicht vier Tage lang hungern lassen!« hatte sie auf der Kartenverteilungsstelle gerufen. »Es verhungert mir ja!«

      »Da könnte jeder kommen!« hatte der Beamte achselzuckend gesagt. »Dem einen sind die Karten verbrannt, dem anderen sind sie gestohlen. Der hat sie verloren, und Ihnen hat das Kind das Brot weggegessen – hätten Sie besser aufgepaßt! Nein, es gibt nichts!«

      Schließlich hatte ihr die Schwägerin Eva mit ein bißchen Brot geholfen …

      Sie rüttelte noch einmal sachte an der Tür des Schrankes: Der Schrank war zu. Sie sah noch einmal nach Gustäving: Das Kind schlief. Sie löschte das Licht und trat in das Treppenhaus. Es war gleich fünf, es war höchste Zeit.

      Im Treppenhaus war es dunkel, aber schon tasteten Schritte hinunter, tappten schwere Füße müde hinauf. Im ersten Stock wurde eine Entreetür geöffnet, ein Mann kam heraus, im Dämmerlicht des Flurs sah sie, wie er seiner Frau den Abschiedskuß gab. Dann tastete er sich stumm neben ihr die Treppe hinunter, aber plötzlich faßte er sie um, er flüsterte: »Na, meine Kleine, Süße? Auch schon so früh aus den Betten?«

      Sie stemmte die Hände gegen seine Brust. Sie wußte, es war der Werkmeister einer Munitionsfabrik, er war »unabkömmlich«! Er war früher ein ganz ordentlicher Mann gewesen, aber dieser Krieg, der Berlin männerlos gemacht hatte, hatte ihn verdorben. Es gab genug Weiber jetzt, die jeder Männerhose nachliefen – nun dachte er wohl, alle Frauen seien Freiwild.

      »Lassen Sie mich sein, Herr Tiede!« rief sie, sich im Dunkeln wild gegen ihn wehrend. »Ich bin ja bloß der Buckel aus dem fünften Stock!«

      »Die Gudde? Das ist doch mal was anderes!« Und indem er sie heftiger bedrängte, flüsterte er: »Sei nett, Kleine! Du kommst mir grade recht – ich schenke dir auch ein halbes Pfund Butter, wenn du artig bist! Ehrenwort!«

      Es gelang ihr, sich von ihm frei zu machen. Sie lief wie gejagt über die beiden Höfe und atmete erst auf, als sie auf der Straße war. Im Licht einer Gaslaterne besichtigte sie den Mantel, den er ihr zerrissen hatte: Gottlob, es war nicht so schlimm, es ließ sich nähen, fast ohne daß man es sehen würde!

      Sie machte eilig, daß sie in die kleine Nebenstraße vor die Tür ihres Fleischerladens kam. Aber sie war ein bißchen spät daran, trotz aller Eile, trotz des Frühaufstehens: Schon eine ganze Reihe Menschen wartete vor der dunklen Ladentür.

      »Neunzehn«, sagte die Frau vor ihr.

      »Dann werde ich ja wohl noch etwas abbekommen«, meinte sie hoffnungsvoll.

      »Das weiß man nicht, wieviel Schweine er zugeteilt bekommt«, sagte die Frau vor ihr. »Aber das hilft nun nichts – das Hoffen haben sie uns ja immer noch nicht verboten!«

      Es klang unsäglich bitter, wie diese Frau es sagte. Nicht nur vom eisigen Wind schaudernd, steckte Gertrud Gudde die Hände tief in die Manteltaschen und stellte sich auf die Zehenspitzen. Hielt man es länger aus, nur auf den Zehenspitzen zu stehen, so froren die Füße nicht so. Und sie mußte es lange aushalten, um acht Uhr erst machte der Fleischer seinen Laden auf.

      Eine Weile stand sie so, frierend; die nur mühsam vertriebene Müdigkeit kehrte zurück. Aber sie brachte keinen Schlaf, sondern nur trübe, finstere Gedanken. Sie suchte sich vorzustellen, was sie beim Fleischer bekommen würde: ein gutes Stück Kopf oder nur ein paar Abfallknochen, fast ohne Fleisch. Es war Glückssache – und meistens hatte sie kein Glück. Alle Menschen waren voreingenommen gegen einen Buckel. Aber man mußte es nehmen, wie es kam: Es war doch, so wenig es auch sein mochte, Fleisch ohne Karten, Abfallknochen, Zeug, das der Fleischer anders nicht verwerten konnte. Es gab den Steckrüben einen besseren Geschmack!

      »Was mag die Uhr wohl schon sein?« fragte die Frau vorn.

      »Fünf Minuten nach halb sechs!« antwortete Gertrud Gudde.

      »Und meine Füße sind schon jetzt wie Eis! Das halte ich nicht bis acht durch. Passen Sie ein bißchen auf meinen Platz auf? Ich habe achtzehn.«

      Gertrud stimmte zu, aber die Frau verhandelte noch mit der vor ihr. Es war zu schlimm, wenn man seinen Platz verlor, wenn man ganz umsonst früh aufgestanden war und gefroren hatte. Man mußte sich erst bei beiden Nachbarn sichern.

      Dann aber lief die Frau los, sie hatte nur Holzschuhe

Скачать книгу