Orbáns Ungarn. Paul Lendvai
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Kämpfen und siegen
Die besten Kenner seiner Persönlichkeit betonen immer wieder die ungeheure Bedeutung des Fussballs nicht nur bei der Geburt der politischen Mannschaft des Fidesz, sondern auch bei seiner Taktik und Strategie in der Politik. Wie ein bitterer Gegner einmal formulierte, wollte Orbán immer gleichzeitig Schiedsrichter und Linienrichter, Mittelstürmer und Torhüter sein. Er selbst bestritt nie, dass er immer Ministerpräsident sein wollte, und verglich den politischen Kampf mit einem offensiven Fussballspiel. Er kann Niederlagen nur ertragen, wenn er weiß, dass mit hartem Training und fester Entschlossenheit, mit raffinierter Taktik zur Ausnützung der Schwächen des Gegners und mit einem erfolgsorientierten Team die gestrige Niederlage beim nächsten Mal in einen Sieg umgewandelt werden kann.
Bei der wohl aufschlussreichsten, jedoch kaum bekannten Geschichte über den ungarischen Ministerpräsidenten handelt es sich um den Film – »Spiel mir das Lied vom Tod«, ein Italo-Western des Regsiseurs Sergio Leone, gedreht im Jahr 1968 (mit Claudia Cardinale, Henry Fonda und Charles Bronson), der aber nur in den Siebzigerjahren im kommunistischen Ungarn gespielt wurde. Zweieinhalb Stunden lang wird der dramatische Kampf um ein Stück Land erzählt, das eine Bahngesellschaft für den Bau einer Bahnlinie kaufen will. Die Familie will es nicht verkaufen. Eine Gangsterbande rottet im Auftrag der Firma die Familie aus, nur die Ehefrau überlebt. Dann aber erscheint als Racheengel Charles Bronson und erschießt den Bandenchef, der einst seinen älteren Bruder ermordet hatte. Die Gerechtigkeit siegt.
Diesen Film habe Viktor Orbán laut dem Bericht seines polnischen Biografen Igor Janke »mindestens fünfzehn Mal« gesehen. Warum? Was hat ihn an diesem Film so hingerissen? Orbán wörtlich: »Alles! Eine heroische Geschichte. Am Anfang scheint die Geschichte hoffnungslos zu sein. Tag und Nacht nur Hindernisse, nichts gelingt. Um zu bestehen und zu siegen, genügt es nicht, dass er schießen und mit seiner Faust ordentlich zuschlagen kann. Er muss auch sein Gehirn benützen und auch die Großherzigkeit darf ihm nicht fremd sein. Das ist sehr wichtig. Du musst deine Feinde begreifen, du muss herausfinden, was sie in Wirklichkeit bewegt, und dann, wenn sich die Dinge zuspitzen, darfst du vor dem Kampf nicht zurückschrecken, greif an und siege!«12
Dieses Motto galt nicht nur für die vier Jahre an der Spitze der Opposition, sondern gilt in einem tieferen Sinn für das ganze Leben dieses Machtpolitikers. Für ihn ist Politik je nach Situation eine Mischung aus einem Western und einem Fußballspiel. Allerdings zeigt er im Gegensatz zu seiner zitierten Aussage keine Großherzigkeit im Kampf gegen die politischen Rivalen, sondern Unbarmherzigkeit nach dem Sieg. Er bewies jedenfalls schon zwischen 1994 und 1998 Durchsetzungskraft und Entschlossenheit angesichts einer übermächtig erscheinenden Regierung und einer zersplitterten Opposition. Der Fidesz, von den liberalen und zweifelnden Elementen befreit, bildete unter Orbán trotz der Wahlniederlage fortan eine verschworene Gemeinschaft im Kampf gegen die linksliberale Regierung. Die Steigerung seiner Beliebtheitswerte und der Applaus aus den Sitzreihen der anderen Oppositionsparteien bestätigten den Eindruck, dass jene Gruppen, die sich ihm und seiner Partei anschließen oder kooperieren, das Gesetz des Handelns zurückgewinnen könnten.
Ein Reformpaket mit Folgen
Die politische Offensive der kleinen Fidesz-Mannschaft entfaltete sich deshalb so überraschend erfolgreich, weil die Regierung von Gyula Horn wegen innerparteilicher Flügelkämpfe in der MSzP die ersten acht Monate praktisch verloren hatte. Es ging, wie so oft vorher und nachher, um die Maßnahmen zur Vermeidung eines drohenden finanziellen Bankrotts. Gyula Horn, der symbolische und überzeugte Vertreter des »kleinen Mannes aus der Kádár-Ära«, hatte zuerst geglaubt, er könnte großzügige Kreditzusagen des für die Grenzöffnung so dankbaren deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl gewinnen und so die einschneidenden Sparmaßnahmen vermeiden. Das deutsche Hilfsangebot blieb aber weit hinter seinen Erwartungen zurück. Daher musste Horn das bis heute radikalste Reformkonzept samt einer umfassenden Privatisierung akzeptieren und zähneknirschend in der Sozialistischen Partei durchsetzen.
Überfallsartig präsentierte der neue Finanzminister Lajos Bokros – in engem Einvernehmen mit dem Chef der Nationalbank György Surányi – am 12. März 1995 zusammen mit Gyula Horn das berühmt-berüchtigte »Bokros-Paket« mit einschneidenden Abstrichen vom Lebensstandard der Durchschnittsungarn. Die Abschaffung sozialer Begünstigungen, die Einschränkung der Löhne und Pensionen, die Einführung von Studiengebühren an den Universitäten und Hochschulen, die gleitende Abwertung des Forints mit einem geschätzten Kursverlust von 26 bis 27 Prozent jährlich sowie andere Steuer- und Zollmaßnahmen reduzierten den Lebensstandard drastisch: Die Reallöhne fielen 1995/1996 um 18 Prozent (nach einem Rückgang um 20 Prozent zwischen 1990 und 1994!) und die Kaufkraft der Renten sank um 25 Prozent. Zwei Kabinettsminister traten aus Protest sofort zurück.
Durch das »Bokros-Paket« gewann Ungarn das Vertrauen des Auslandskapitals und der internationalen Finanzinstitutionen (Währungsfonds und Weltbank) fast schlagartig wieder. Das Budgetdefizit wurde dann bis Anfang 1998 von 10 Prozent auf 4,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und die Nettoverschuldung von 21 Milliarden auf 8,7 Milliarden Dollar reduziert. Hand in Hand mit der finanziellen Stabilisierung gelang der sozial-liberalen Regierung eine groß angelegte Privatisierung des Staatseigentums.
Im Rückblick war dieses Paket wirtschaftlich ein Durchbruch, politisch ein Selbstmord. Obwohl nach dem erzwungenen Rücktritt des mutigen Finanzministers die Reformkonzepte verwässert wurden, begann ab März 1995 der unaufhaltsame Abstieg der sozial-liberalen Regierung. Anfang 1996 lag die Opposition in den Umfragen bereits um 19 Prozent voran. Zum massiven Einbruch des Lebensstandards des »kleinen Mannes«, den ja Ministerpräsident Horn zu vertreten behauptete, kam dann der berüchtigte (verglichen mit der wuchernden Korruption der Orbán-Ära ab 2010 freilich geradezu läppische) Tocsik-Skandal. Es ging darum, dass jede der beiden Koalitionsparteien für ihre Auftragsvermittlung an die Juristin Márta Tocsik jeweils 112 Millionen Forint, eine art »kickback«, erzwungen und erhalten hatte.13 Andere zwielichtige Transaktionen und die staatspolitisch zwar richtigen, aber von den Vertretungen der Auslandsungarn stark kritisierten Grundverträge mit Rumänien und der Slowakei waren auch Wasser auf die Mühlen der Opposition. Orbán griff die Regierung auch in diesen Fragen, mit Unterstützung der Kirchen (trotz der bedeutenden Konzessionen bei der staatlichen Finanzierung im Abkommen mit dem Vatikan), immer schärfer an.
In einer seiner wichtigen programmatischen Eklärungen am Tag der Bürgerlichen Opposition am 12. Juni 1997 in der Musikakademie hörte man die später von seinen Kritikern oft zitierte Aussage: »Die ungarische Regierung ist trotz unserer Verfassungsgesetze fremdartig, steht nicht unter nationalem Einfluss.« Das nationale Moment wurde immer stärker mit dem Bekenntnis zum Bürgertum ergänzt. In seiner Rede am Fidesz-Parteitag im Februar 1998 verwendete Orbán laut der Statistik seines Biografen Debrezceni auf elf Manuskriptseiten nicht weniger als achtzig Mal das Wort »Bürger«. Ein Rundschreiben der katholischen Bischofskonferenz, das am Ostersonntag in den Kirchen vorgelesen wurde, ließ eine klare Stellungnahme für die bürgerlichen Rechtsparteien erkennen.
Vier Jahre nach dem kläglichen Fiasko des Fidesz errang die nunmehr eindeutig von Viktor Orbán dominierte Opposition, trotz des Stimmenvorsprungs der Sozialisten in der ersten Runde, durch die Listenverknüpfungen in der zweiten, entscheidenden Runde bei der Verteilung der Mandate in den Einzelwahlkreisen eine klare Mehrheit. Der kurz zuvor noch unvorstellbare Aufstieg des Fidesz zur dominierenden politischen Kraft war die eigentliche Sensation. Für die nächsten vier Jahre wurde die politische Bühne vom »Meteor am politischen Himmel Ungarns« (so Biograf Debreczeni), von der größten Begabung und dem zugleich umstrittensten Machtpolitiker, Viktor Orbán, dominiert.