Reisen mit leichtem Gepäck. Tove Jansson
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Читать онлайн книгу Reisen mit leichtem Gepäck - Tove Jansson страница 3
»Das ist es ja gerade«, sagte Jonne, »ich bin kein Bohemien, ich bin ganz normal, ich habe kein Recht, an einem Achtzigsten Samthosen zu tragen. Und ich treffe deine Großmutter heute zum ersten Mal.«
Ich sagte: »Wir packen es aus, bevor wir reingehen, das ist höflicher. Großmutter packt nur an Weihnachten gern selbst Pakete aus.«
Das mit dem Geschenk war nicht ganz einfach gewesen. Großmutter hatte angerufen und gesagt: »Kindchen, du bringst doch hoffentlich deinen Jüngling mit, damit ich ihn mir anschauen kann, aber besorg jetzt bitte kein unnötiges teures Geschenk. Mittlerweile habe ich das meiste und außerdem einen besseren Geschmack als die Mehrzahl meiner Nachfahren. Und wenn ich sterbe, möchte ich kein allzu großes Chaos hinterlassen. Überlegt euch nur etwas ganz Schlichtes, Liebevolles. Und versucht ja nicht, etwas zu finden, das mit Kunst zu tun hat, denn das schafft ihr nicht.«
Wir überlegten hin und her. Großmutter hält sich für den Gipfel an unkomplizierter Toleranz, dabei belastet sie die Verwandtschaft in Wirklichkeit mit anspruchslosen Wünschen, die bei allem Freisinn recht lästig werden können. Eine stilvolle Schale aus dickem Glas zum Beispiel, das wäre so einfach gewesen, aber nein, da ist man dann bürgerlich und kein bisschen liebevoll. Natürlich habe ich Jonne so einiges über Großmutter und ihre Malerei erzählt, und Jonne ist beeindruckt. Zu Hause haben wir eine ihrer frühen Skizzen, aus San Gimignano, wo Großmutter auf ihrer ersten Stipendienreise landete, also bevor sie durch die Bäume, die sie malt, berühmt wurde. Sie sprach oft von San Gimignano. Und ich wollte immer wieder von Neuem hören, wie glücklich sie in diesem italienischen Städtchen mit all den viele Türmen gewesen war, wie sie sich stark und befreit gefühlt hatte, als sie bei Sonnenaufgang aufwachte, um zu arbeiten, eine Signorina hatte ihren Gemüsekarren durch die Stadt gerollt und Großmutter hatte das Fenster geöffnet und auf das, was sie haben wollte, gedeutet, und sie verstanden sich sofort und lachten, und es war warm und alles war schrecklich billig, und dann ging Großmutter mit ihrer Staffelei hinaus … Jonne gefällt diese Geschichte auch. Und neulich, da ist was Unglaubliches passiert: Jonne ist losgezogen und hat auf eigene Faust in einem Gemischtwarenladen ein Bild aus San Gimignano entdeckt. Und damit hatten wir Großmutters Geschenk. Im Laden sagten sie, es sei eine Lithografie vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Wir fanden das Bild nicht besonders gut, aber immerhin.
»Jonne«, sagte ich, »jetzt gehen wir rein. Sei ganz natürlich, das gefällt ihr.«
In der Türöffnung zu Großmutters Atelier stand eine lange Reihe Gratulanten, ein paar kleine Kusinen flitzten raus und rein und nahmen die Mäntel ab, nach und nach wurden wir in den großen luftigen Raum geschleust, der von Großmutters Trabanten prachtvoll geschmückt und hergerichtet worden war. Ich peilte Großmutter an, steuerte in ihre Richtung und drückte Jonnes Arm kurz fest an mich, um ihn zu beruhigen. Gedämpfte Hintergrundmusik war zu hören, nichts Klassisches, vermutlich etwas, dessen erlesene Auswahl Großmutters geheime Signatur trug.
Wir gingen auf sie zu. Sie hatte sich mit ihrer üblichen, bewusst kalkulierten Nonchalance gekleidet, die weißen Haare lagen wie zufällig in leichten Locken um ein aufmerksames, höfliches Gesicht mit sehr klaren und spöttischen Augen.
»Das hier ist Jonne«, sagte ich. »Jonne. Großmutter.«
»Willkommen«, sagte sie. »Aha, das hier ist also Jonne. Du bist Finne, nicht wahr?«, fuhr sie fort und betrachtete ihn mit mildem Blick. »Wie wirst du nur in so einer alten, dickköpfigen Familie klarkommen, wo man nur Schwedisch spricht? Und wie war das wieder, seid ihr verheiratet oder nicht? Ist das unter Dach und Fach?«
»Unter Dach schon, aber nicht unter Fach«, antwortete Jonne mutig, und Großmutter lachte, und ich wusste, dass er ihr gefiel. Sie sagte: »Und? Wo habt ihr das Geschenk?«
Sie musterte das Bild aus San Gimignano ausgiebig und bemerkte, nun, da habt ihr euch ja wirklich Mühe gegeben, und fügte mit einem blitzschnellen Lächeln hinzu: »Ich habe dasselbe Motiv gezeichnet. Aber besser.« Mit einer kleinen Geste, die sowohl Abfertigung als auch geheimes Einvernehmen ausdrückte, ging sie weiter.
Dominiert wurde der große Raum von Großmutters Modelltisch, der, von dem Brokattuch aus Barcelona bedeckt, üppig bestückt war mit allerlei Köstlichkeiten, von Oliven bis zur Sahnetorte, jüngere Nachkommen liefen mit Vasen hin und her, die sie bereits am Morgen mit Wasser gefüllt hatten, die Gäste standen in Gruppen beisammen und unterhielten sich fieberhaft, und jeder erhielt ein Glas Champagner. Über dem Ganzen segelte Großmutter wie ein Bild von Chagall und verteilte einen gleichsam neutralen Segen, kam und ging und gab hie und da kurze Bemerkungen von sich. Aber ich merkte genau, dass sie sich davor hütete, die Gäste einander vorzustellen. Nicht die geringste Andeutung von nachlassendem Gedächtnis – stellt euch bitte selbst vor, liebe Freunde. Wie soll es mir nur jemals gelingen, so frei zu werden wie Großmutter!
Das Atelier wurde unentwegt von rennenden und schreienden Kindern durchquert, doch die schienen Großmutter nicht im Geringsten zu irritieren, sie überließ es einfach den Müttern, sich um das zu kümmern, was sie da zustande gebracht hatten.
Jonne und ich setzten uns an einen Tisch mit vielen Leuten und merkten erst zu spät, dass wir an den falschen Tisch geraten waren; es war ein Tisch für jene, die Großmutter als die Intellektuellen bezeichnete und die ausschließlich miteinander zu verkehren pflegten. Was die Intellektuellen so machten, wusste ich nicht. Ich versuchte verzweifelt, mir irgendeine Bemerkung auszudenken, und schließlich, nach langem Schweigen, wandte ich mich an einen Herrn mit Spitzbart und sagte, das abendliche Licht im Atelier sei ungewöhnlich schön. Zu meiner Erleichterung begann er sich über die Bedeutung des Lichts auszulassen und ging dann zur Idee der Perzeption über, es dauerte allerdings lange, bis ich begriff, dass er Kunstkritiker war. Zum Glück schien er nichts anderes zu erwarten, als dass man ihm zuhörte, ich nickte nachdenklich und sagte ja natürlich und wie wahr. Ab und zu blickte ich zu Jonne hinüber, der gegenüber saß und unglücklich aussah. Er war neben einem dieser Genies gelandet, die nur schweigen und kein bisschen hilfreich sind. Trotzdem war ich ein bisschen stolz darauf, dass mein Jonne in eine Familie mit künstlerischem Ursprung geraten war, in eine Familie, wo man ein Fest von erstaunlicher Dimension wirklich zu organisieren verstand.
Mit der Zeit gelang es Jonne, aufzustehen und zu mir herüberzukommen. »Machen wir uns auf den Heimweg?«, zischte er mir ins Ohr.
»Ja«, sagte ich, »bald.«
Genau in diesem Moment kamen sie herein, drei Herren von undefinierbarem Äußeren. Irgendwie wirkten sie leicht verlottert – nein, fleckig, verwischt. Aber Bohemiens waren sie absolut nicht, langhaarig zwar, aber eher auf die Art älterer Herrschaften. Sie machten eine große Nummer aus ihrem Auftritt, verneigten sich tief vor Großmutter und küssten ihr die Hand. Großmutter geleitete sie an einen leeren Tisch ganz hinten am Fenster, dann erhielt jeder von ihnen ein Glas Champagner. Innerhalb kürzester Zeit gelang es einem dieser Herren, sein Glas fallen zu lassen, worauf er völlig außer sich geriet, Großmutter lächelte nur, obwohl ich ja wusste, wie viel ihr ausgerechnet diese Gläser bedeuteten, Hochzeitsgläser, glaube ich. Es wurde noch mehr Kaffee und Kuchen serviert, aber die neuen Herren erhielten weiterhin Champagner. Wir übrigen dagegen nicht. Inzwischen hatte Jonne begonnen, langsam an den Wänden entlangzuwandern und dabei alles, was dort hing, gründlich in Augenschein zu nehmen, bis er unauffällig den Tisch der neuen Herren erreicht hatte, der gute Jonne, er begriff ja nicht, dass dies der Tisch der Versager war. Wie dem auch sei, jetzt schien er sich wohlzufühlen, endlich.
Einer der Herren ging zum Whiskytisch und holte sich eine ganze Flasche, auf dem Rückweg erwies er Großmutter eine tiefe Reverenz. Ihr leichtes Lächeln wirkte eventuell etwas ermüdet.
Mein Kritiker war ein Stück von mir abgerückt und unterhielt sich jetzt sehr lebhaft, offenbar ging es immer noch um die Idee der Perzeption. Ich stand auf und schlich diskret zu