Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman. Patricia Vandenberg
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Leider war Daniel diesmal nicht zum Scherzen zumute.
»Ich muss mit Ihnen sprechen«, erwiderte er und setzte sich an den Tisch vor dem Fenster.
Von dort aus hatte man einen herrlichen Blick über den Klinikgarten, den Landschaftsgärtner nach Jenny Behnischs Plänen angelegt hatten. Doch in diesem Moment hatte Daniel keinen Blick für die blühende Pracht dort draußen. Er sah seine Patientin an und bedeutete ihr mit einer Geste, sich zu ihm zu setzen.
Heike zögerte. Dann legte sie das T-Shirt, das sie in der Hand hielt, aufs Bett, und kam seiner Aufforderung nach.
»Warum so ernst, Doktorchen?«, fragte sie ihn und wirkte völlig ahnungslos. »Ich dachte, sie freuen sich, wenn Sie Ihre Patienten zum Lachen bringen können.«
»Aber nicht, wenn mir meine Patienten große Sorgen machen«, gestand er und blickte auf die Fingers seiner ineinander verschlungenen Hände, die er auf den Tisch gelegt hatte.
Sofort drückte Heikes Gesicht all ihr Mitgefühl aus.
»Wer macht Ihnen denn Sorgen?«
»Na, Sie«, seufzte Daniel Norden und beschloss, sie nicht länger auf die Folter zu spannen. »Bitte sagen Sie mir die Wahrheit. Als Sie an den Ampelmasten vor der Bäckerei gefahren sind … wollten Sie sich umbringen?«
»Natürlich nicht. Wie kommen Sie denn auf so eine absurde Idee? Ich wurde verfolgt, das wissen Sie doch!«, ging sie sofort in Verteidigungshaltung.
An Daniels Blick ahnte sie aber, dass sich die Schlinge um ihren Hals enger zog. Vorsichtshalber senkte sie den Kopf.
»Aber Sie wissen doch genau, dass diese Bedrohung nicht echt ist. Nicht wahr? Sie wissen, dass es keine Männer gibt, die Sie verfolgen. Aber Sie wissen, dass Sie eine Tochter hier in München haben. Und dass diese Tochter den Kontakt zu Ihnen abgebrochen hat.«
Heike starrte auf Daniels Hände und presste die Lippen aufeinander. Sie sagte kein Wort, und er fuhr fort.
»Hat Ihre Tochter den Kontakt zu Ihnen abgebrochen, weil Sie krank sind?«, beschloss Daniel, aufs Ganze zu gehen. Er hatte nichts zu verlieren. »Bitte, Frau Moebius, ich will Ihnen helfen. Aber das ist schwierig, wenn Sie nicht mit mir reden.«
Es war Heike anzusehen, dass sie mit sich kämpfte. Nach einer gefühlten Ewigkeit – Dr. Norden dachte schon daran, endlich in die Praxis zu fahren – brach sie endlich ihr Schweigen.
»Ich kann Marla keinen Vorwurf machen.« Ihre Stimme war heiser. »Ich hab es ihr nicht gerade leicht gemacht.«
»Was ist mit Ihrem Mann?«
»Mit Uwe?« Heike Moebius lachte. Es war kein freudiges Lachen. »Wir sind getrennt, seit Marla fünf Jahre alt war.«
Diese Information war neu für den Arzt. Davon hatte Marla nie etwas gesagt.
»Dann leben Sie ganz allein in Stuttgart?«
»Ja, aber ich habe meine Teilhaberschaft in einer Kanzlei, wo ich meine Klienten so gut wie möglich betreue«, erwiderte Heike Moebius, und ihre Hände begannen zu zittern. »Allerdings werde ich alles verlieren, wenn das so weitergeht«, brach es aus ihr heraus.
Diese Bemerkung veranlasste den Arzt zu seiner nächsten Frage.
»Das klingt so, als wüssten Sie, wie es um Sie steht«, sagte er ihr auf den Kopf zu. »Haben Sie eine Diagnose?«
Dieses Gespräch fiel Heike Moebius alles andere als leicht. Sie hielt es nicht mehr auf ihrem Stuhl aus und stand auf, um im Zimmer umher zu gehen.
»Natürlich. Es ist ja nicht so, als würde ich nicht merken, wie schlecht es mir geht.« Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. »Aber wissen Sie, nach all den Jahren habe ich den Kampf aufgegeben.«
»Warum?« Nach wie vor saß Dr. Norden auf seinem Stuhl. Von dort aus beobachtete er den Marsch seiner Patientin. »Hatten Sie vor Ihren Klienten einen Anfall?«
Heike schüttelte den Kopf.
»Das nicht. Bei mir ist es so, dass die Krankheit in Schüben kommt. Und natürlich bin ich zu den verschiedensten Ärzten gegangen und habe noch mehr unterschiedliche Meinungen zu hören bekommen. Und jede Menge Tabletten. Aber wie soll ich denn arbeiten, wenn ich wie ferngesteuert bin? Wenn ich Watte im Kopf habe und mich nicht konzentrieren kann?«, stellte sie eine berechtigte Frage. »Das geht nicht. Deshalb habe ich die Mittel abgesetzt. Wenn ich mich nicht wohl fühle, bleibe ich inzwischen einfach zu Hause. Das wissen meine Klienten und haben sich darauf eingestellt.«
»So gut, wie Sie denken, scheinen Sie die Sache aber doch nicht im Griff zu haben«, hielt Dr. Norden nicht mit seiner Ansicht hinter dem Berg und sah seiner Patientin dabei zu, wie sie wieder Platz nahm. »Dabei gibt es heutzutage wirklich gute Medikamente mit wesentlich geringeren Nebenwirkungen.«
Heikes Augen wurden schmal. Ein paar Falten zeichneten sich auf ihrer Stirn ab.
»Nein, danke. Ich habe lange genug das Versuchskaninchen gespielt. Wirklich, im Normalfall habe ich diese Sache selbst ganz gut im Griff«, widersprach sie vehement.
Angesichts dieser heftigen Gegenwehr begriff Daniel Norden, dass er gegen Windmühlen kämpfte.
Eine Möglichkeit gab es noch. Aber wenn die nicht funktionierte, wusste er auch nicht weiter. So versuchte er es also mit einer List und stand seufzend auf.
»Da scheint Ihre Tochter anderer Meinung zu sein«, erklärte er von oben herab und ignorierte Heikes offensichtliche Bestürzung. »Sind Sie nach München gekommen, weil Marla hier lebt? Wollten Sie einen neuen Anfang machen?«
Heike Moebius kaute auf der Unterlippe und schüttelte schließlich den Kopf.
»Dazu ist es längst zu spät.«
»Ach, dann sind Sie hierhergekommen, um Marla zu sagen, dass Sie aufgeben?« Die Provokation war offensichtlich, und endlich zeigte sich der erhoffte Erfolg.
»Ich bin die Letzte, die vor Problemen davon läuft«, protestierte die Anwältin. »Sonst wäre ich längst unter die Räder gekommen.« Sie haderte mit sich und betrachtete die roten Fingernägel. »Sie wollen die ganze Geschichte hören, nicht wahr? Also schön.« Es fiel ihr nicht leicht, die Karten auf den Tisch zu legen. »Mein Mann und ich hatten eine eigene Kanzlei und waren unglaublich stolz. Das Unglück begann, als er mich mit unserer Sekretärin betrog. Damals war Marla gerade mal fünf Jahre alt. Wir trennten uns, arbeiteten aber weiter zusammen, auch wenn es mich jedes Mal fast zerrissen hat, die beiden zusammen zu sehen. Ich wollte alles dafür tun, dass wenigstens unsere Tochter eine glückliche Kindheit haben kann. Das ist mir leider nicht gelungen. Sie hat gegen alles und jeden rebelliert und ist schließlich weggegangen. Seitdem will sie weder was von mir noch von meinem inzwischen geschiedenen Mann wissen. Das muss ich akzeptieren.« Das Gespräch hatte sie erschöpft ,und als Heike gähnte, wusste Dr. Norden, dass es Zeit wurde zu gehen.
Er brachte sie zu ihrem Bett und sorgte dafür, dass sie bequem lag.
»An Ihrer Stelle würde ich mich nicht von Marlas Verhalten abweisen lassen«, erklärte er noch. »Zeigen Sie Ihr, wie stark Sie wirklich sind. Kämpfen Sie gegen Ihre Krankheit statt sie zu verdrängen.«