Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke - Prosa, Reportagen, Gedichte. Kurt Tucholsky

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Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke - Prosa, Reportagen, Gedichte - Kurt  Tucholsky Gesammelte Werke bei Null Papier

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der Zug, um dreiviertel zehn darfst du, Punkt.«

      »Hm.«

      Pause.

      »Wolfgang?«

      »Claire?«

      »Sagssu mir, was da drün is? Seh mal…«

      »Schweig. Ich habe gesprochen.«

      »Aba, Wölfchen, ich fand, du konnst mir doch den Anfangsbuchstaben sagen und den hintern auch, ich meine den Endbuchstaben, ja?«

      »Ich zertrümmere dich. Nein.«

      »Nur den Anfang, tje? – Bitte, bitte!…«

      »Schluß. Wir essen!«

      Es gab »schöne Sachens« – »Suppens gibs«, erörterte Claire, die alles wußte, »un Hühnegens mit Gemüsen und Hops (Hops? – Obst, Wölfchen, Obst) un denn gübs… Willstu das gern wissen, Wölfchen?«

      »Ja.«

      »Hm, ich sag dir’s auch. Aber du mußt mir sagen, was in dem Paket…«

      »Ich will’s nicht wissen.«

      »Buh!«

      Sie »muckschte« wie ein kleines Kind und ließ eine habsburgische Unterlippe hängen, bis das Essen kam.

      »Wölfchen, eß man Suppens mitm Messer?«

      »Wa–?«

      »Na, ich hab mal einen gesehen, der hat mitm Messer geessen.« »Suppe?«

      »Neieinn…«

      Aber da kam eine alte Dame an ihrem Tisch vorübergeschlurcht, schielte krumm und murmelte etwas von »unerhört« und »Person« und so.

      »Wölfchen, die meint mir. Konnste ihr nich gefordert gehabt habs? – Söh mal, ich bin doch ’ne Feine, nich wahr? oder glaubssu, ich bin eine Prostitierte? Nei–n. Ich ja nich. Ich nich. Hä?«

      »Laß das Alter gewähren, mein Kind. Vielleicht hat sie nicht so hübsche Jugenderinnerungen… Wie schrieb der große Friedrich an den Rand seiner Akten? – ›Mein lieber Geheimrat‹, schrieb er, ›wir sind alt und können nicht mehr, wir wollen uns über die freuen, die noch können‹.«

      Und dann aßen sie, und als es zu Ende war:

      »Wölfchen, die Sonne scheint gerade so schön, wir wollen photographieren«

      Sie holte den Apparat, den sie umständlich herrichtete. Eine Zeitaufnahme war beabsichtigt, unter dem Blätterdach der alten Bäume, die gesprenkeltes Licht zum Boden durchließen.

      »Stell dir man hin, Wölfchen. Nun paß auf: wir machens einen langen Aufnahmen. Du mußt nu ümmessu ruhig stehen, weißtu, ganz stille, ich geh solange fort, auf daß es dir nicht lächere…«

      Er stand regungslos, nur gegen die Sonnenstreifen anblinzelnd, fühlte sein Herz klopfen, der Atem ging taktmäßig ein und aus. Wie lange es dauerte? Die Claire wandelte unter den Linden, weiter hinten. Es sah aus, als hätte sie vergessen…

      Ohne die Lippen weit zu öffnen: »Claire!«

      Immer noch erging sie sich unter den schattigen Bäumen, aber sie antwortete: »Ja?«

      »Noch lange?«

      »Nein.«

      Wieder Schweigen. Wieder summten die Insekten. Teller klapperten im Haus.

      »…lange?«

      »Wolfgang?«

      »Hm?«

      Und von ganz fern: »Du kannst kommen! – Ich habe gar nicht eingestellt!« Und helles Lachen.

      »So ein–«

      »Aber schön still hast du gehalts!«

      Hoho! Wie aus einem Schallbecken platzte Lachen aus ihrem Mund, heftig, lärmend.

      Aber er fing sie.

*

      Nach dem Essen mußte die Claire schlafen gelegt werden. Sie waren im Sonnenglast hingestreckt, auf einer Wiese, über der die Luft in der Mittagswärme zittrig schwebte. Schweigen.

      »Wölfchen?«

      »Claire?«

      »Sagssus mirs?«

      »Was denn?«

      »Was in den Paket…«

      »Schlaf!«

      Sie schnarchte, daß die Grillen vor Schreck verstummten.

      »Pst!«

      »Du sagst ja, ich soll. Nie nich is es richtig. Buh!«

      Wieder Schweigen.

      Wie im Selbstgespräch: »Ich fand, wenn du’s mir sagtest, gefiel’s mir hier besser. Wie? Ich bin neugierig, alle Frauen sind…? Ich will dir mal was sagen, ich will’s gar nicht wissen, überhaupt ist es mir egal, es läßt mich kalt.«

      »Das kannst du brauchen.«

      »Wie?«

      »Ich meinte nur.«

      »Wölfchen?«

      »Claire?«

      »Is’n zu essens drin oder…?«

      Aber er antwortete nun nicht mehr. Sie schliefen. Und als sie aufwachten – sie hatte ihn wachgekitzelt – stand die Claire auf, strich sich den Rock glatt, und ihre ersten Worte waren: »Neugierig bün ich ga–nich. Aber wissen möcht ich bloß, was da in is«, und dachte heftig nach, ohne es herauszubekommen. (Sie hat es nie erfahren, das Paket wurde im Hotel vergessen.)

*

      Nachmittags lagen sie im Boot. Der Himmel war klar, noch einmal gab der Sommer seine Wärme.

      Dies ist der letzte der drei Tage! Aber ich bin so froh wie am ersten. Jung sein, voller Kraft sein, eine Reihe leuchtender Tage – das kommt nie wieder! Heiter Glück verbreiten! – Wir wollen uns Erinnerungen machen, die Funken sprühen! Wir haben alles voraus – heute! Mögen die in den Gräbern die Fäuste schütteln, mögen die Ungeborenen lächeln – wir sind! Alle sollen freudig sein! Kämpfen – aber mit Freuden! – Dreinhauen – aber mit Lachen! Mädchen, was zieht ihr mit Ketten schwer beladen einher? – Schüttelt sie ab. Sie sind leicht! – Sie sind hohl! – Tanzt, tanzt!–

      Vom Ufer her rief sie jemand an, ein Mädchen mit einer Schneckenfrisur und ernsten, schwarzen Augen. Sie trug sich irgendwie in Blau und Grau. Sie ruderten heran. Wo es hier nach dem Forsthaus ginge? Ob es noch weit sei? – Sie beabsichtigten dorthin zu fahren, wenn sie wolle…? Sie dankte, nahm an.

      Es ergab sich, daß sie gleichfalls die Heilwissenschaft studiere und sich auch sonst geistig fleißig rege. Sie lud arme Kinder zu sich zu Tisch, um an abgemessenen Gewichtsportionen die Wirkungen gewisser Hydrate festzustellen, auch in andern Beziehungen nahm sie sich dieser Opfer der kapitalistischen Wirtschaftsordnung

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