Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke - Prosa, Reportagen, Gedichte. Kurt Tucholsky
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Inzwischen haben sie sich vor der Kirche und um die Kirche versammelt. Auf den Rampen stehen sie Kopf an Kopf, die Plattform ist gedrängt voll, der Platz ist leer, aber weit unten, an der Esplanade, tauchen Feuerfünkchen auf … Sie fangen an.
Und da leuchtet die Basilika, ihre Konturen sind mit Glühlämpchen nachgezogen, ein Scheinwerfer erhellt die Spitze des Turmes, der liegt in bleichem Licht und sieht aus, als verschwinde er in den Wolken, obenauf dem Pic du Jer, einem Berg in der Nähe von Lourdes, blitzt ein Feuerkreuz. Und da setzt sich die Prozession in Bewegung.
Hier hört jede Schätzung auf. Es ist einfach ein breiter Lichtstrom, der sich dahinbewegt, die Pünktchen ergießen sich glitzernd über den tiefen Abgrund vor der Kirche. Bevor sie sich auf der Esplanade versammeln, gehen sie über die Plattform, sie ziehen an mir vorbei, und ich höre alle einundfünfzig Strophen des Marienliedes »Espérance« – und »France« kann ich hören, und auch von der Wahrheit wird gesungen …
La France l’écoute
Se lève soudain.
Et se met en route
Chantant ce refrain:
Avé – Avé
Avé Maria –!
Aber nun sind die letzten hier oben vorüber, und der große Feuerzug ist auf dem Platz angekommen. Sie marschieren in Schlangenlinien, sie nähern sich auf dem gewundnen Lichtpfad immer mehr der Kirche … Und als sie nun alle, alle vor dem Tor der Kirche stehen, wie um Einlaß singend, da zischen einige: Ssss! – es wird einen Augenblick still, und dann steigt das Credo unter den Fackeln zum Himmel.
Credo in unum Deum, Patrem omnipotentem … Sie singen es alle, Männer und Frauen, auswendig, alle die schwierigen lateinischen Worte, die sie französisch aussprechen: Spiritüs sanctüm … Das steht wie ein Wall da unten. Unerschütterlich, voller Kraft klingt das Credo.
Et expecto resurrectionem mortuorum.
Et vitam venturi saeculi.
Amen.
Das ist ein Tag in Lourdes.
III. Siebenundsechzig Jahre
Vor siebenundsechzig Jahren fing es an. Lourdes war damals »ein Haufe trüber Dächer, von traurigem Bleigrau; so stehen sie da, unterhalb der Straße eng zusammengedrückt«. Taine hat seine Reise im März 1858 abgeschlossen, er kam grade einen Posttag zu früh. Sonst hätte er folgendes beobachten können:
In Lourdes lebte zu dieser Zeit eine kleine Müllerstochter, Bernadette Soubirous, sie war vierzehn Jahre alt. Das Kind war immer krank, es litt an Asthma, an Atemnot, an schweren Hustenanfällen. Die Alten hatten viele Kinder und wenig Brot, es ging ihnen nicht gut. Im Sommer hütete die Kleine die Schafe in Bartrès, in der Nähe von Lourdes, bei einer Frau, die ihr Kind verloren und die kleine Soubirous genährt hatte. (Diese Frau ist noch am Leben.) Lesen und schreiben konnte sie nicht – aber an kalten Wintertagen, wenn in den Hütten abends kein Feuer brannte, um zu wärmen, und kein Licht, um zu leuchten, versammelten sich die ärmern Bauernfrauen und ihre Kinder in der kleinen Kirche zu Lourdes, und da erzählte der Curé fromme Geschichten, von göttlichen Erscheinungen, wunderbaren Quellen, Segen und Heilungen der Gebenedeiten – – Die Pyrenäen sind reich an solchen Legenden. Ihnen gemeinsam ist stets: die plötzlich auftauchende Erscheinung, meist eine weiße Frau, sie vertraut dem ahnungslosen Hirten ein gutes Geheimnis an, das der nie verraten darf, sie gibt ihm einen Auftrag, sie zeigt ihm eine Quelle, die Quelle heilt Kranke. Um Lourdes wimmelt es: Unsre Liebe Frau in Barbazan, Unsre Liebe Frau von Nestè, Médoux, Bétharram, Garaison, Bourisp – so viel Namen, so viel Wundererscheinungen, weiße Frauen, Heilquellen, Geheimnisse. In der abendlichen Kirche, wohlgeborgen vor den Schneestürmen, im Flimmer der Kerzen, die die Schatten im Halbdunkel auf Goldgrund tanzen ließen, saß die Kleine und sog in sich auf, was es da zu hören gab. Manchmal war sie traurig: in ihrer Atemnot hatte sie husten müssen und das Schönste nicht gehört.
Der Bruder ihrer Ziehmutter war ein Priester, er brachte oft bunte Bildchen mit und auch die Bibel und Heiligengeschichten, die das Mädchen nicht lesen konnte… Aber die Bilder konnte sie betrachten, die schönen Bilder mit der Heiligen Mutter Maria in weißem Gewande, mit den Rosenornamenten als Schmuck, die ihr fromme Maler zu Häupten gesetzt hatten, und sie sah sich diese Bilder gern an. Das, was ihr die Priester an solchen Winterabenden erzählten, war ihr geistiges Leben, denn sie war noch nicht eingesegnet und wußte weiter nichts von Religion als diese vagen und frömmelnden Historien. Da war von Gott- Vater die Rede, von der Heiligen Jungfrau, von Jesus und von der Dreieinigkeit und wohl auch von der unbefleckten Empfängnis.
Denn drei Jahre vorher, am 8. Dezember 1854, war von Pius IX. das Dogma der Conceptio Immaculata verkündet worden, das beinahe so viel Aufsehen gemacht hat wie das von der Unfehlbarkeit des Papstes. Diese Tatsache findet sich in der gesamten populären Bernadette-Literatur verschwiegen. Wir werden sehen, warum.
Am Donnerstag, dem 11. Februar 1858, fror es in Lourdes, der Himmel war grau, die Bauern machten, daß sie ihre Arbeit draußen beendigten und beeilten sich, in die Hütten an den Herd zu kommen. Der Müller Soubirous brauchte sich nicht zu beeilen: es war kein Holz im Hause. Die Kinder sollten Holz holen. Bernadette ging in die Kälte hinaus, ihre jüngste Schwester Toinette und eine Freundin, Jeanne Abadie, begleiteten sie. Die drei stiegen an den Abhängen herum, überquerten den Bach, der jetzt, abgeleitet, am Eisenbahndamm entlangfließt, und kamen schließlich in die Grotte. Winterstille und Geriesel von trockenem Laub. Da hörte sie ein dumpfes Geräusch. Sie hob den Kopf …
»Ich konnte nichts mehr sagen, und ich wußte gar nicht, was ich denken sollte, denn als ich den Kopf zur Grotte wendete, sah ich an der Felsöffnung einen Busch, aber nur einen, hin- und herschwanken, wie wenn großer Wind wäre. Beinah zu gleicher Zeit kam innen aus der Grotte eine goldene Wolke, und danach: eine junge und schöne Dame, so schön, wie ich niemals eine gesehen hatte. Sie stellte sich an der Öffnung auf, oberhalb des Buschs. Sie sah mich an, lächelte und machte mir ein Zeichen, näher zu kommen, grade wie wenn sie meine Mutter wäre.«
Die beiden kleinen Begleiterinnen hatten nichts gesehen, nur allein Bernadette. Erst war es in ihren Berichten »etwas Weißes«, dann eine Dame, dann eine wunderschöne Dame, mit weißem Gewand, blauem Gürtel und gelben Rosen zu Füßen – aber die sprach zunächst nicht, sie lächelte. Bernadette ging immer wieder in die Grotte. Die Mutter wollte das nicht. Die Grotte stand in keinem guten Ruf, Liebespaare pflegten sich dort zu verstecken, und wenn man wieder einmal am Morgen leere Flaschen und sonstige schöne Sachen dort gefunden hatte, stießen sich die Bauern in die Rippen und grinsten: »Heute nacht haben sie wieder Dummheiten in der Grotte gemacht!« Aber Bernadette ging wieder und wieder hin. »Sie« erschien ihr achtzehnmal.
Beim drittenmal sprach die Dame. Sie bat die Kleine, während vierzehn Tagen in die Grotte zu kommen. Bernadette versprach das. Und dann: »Trink aus der Quelle und wasch dich in dem Wasser!« – Es war aber keine Quelle da, das Kind kratzte die Erde auf, da lief ein dünnes Rinnsal über die Erde. Die Wunderquelle war geboren. Und später: »Sage den Priestern: sie sollen hier eine Kapelle bauen und in Prozessionen hierherkommen!« Und nun auf inständige Fragen, endlich, endlich: »Ich bin die Conceptio immaculata.« Die Dame, die dies gesagt hatte, sprach das bäurische Platt. »Qué soy ér’ Immaculada Councepsiou.« Und da war Bernadette schon nicht mehr allein.
Die Sache war durchgesickert, die Polizei mischte sich ein, mißtrauisch, liberal, halb aufgeklärt und durchaus dagegen. Der Priester des Orts war vorsichtig, skeptisch, außerordentlich klug. »Ein Wunder! Ein Wunder!« verlangte er. Und vor der Namensgebung: »Sage deiner Dame, daß ich sie nicht kenne – sie solle sich vorstellen.« Sie stellte sich vor, und nach jeder Halluzination wurde das Publikum größer,