Bleib bei mir, kleine Lady. Barbara Cartland
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„Der Familienschmuck der Radstocks ist einmalig“, hatte Gracilas Stiefmutter betont. „Nicht einmal die Königin kann mit Brillanten derselben Reinheit und Größe aufwarten.“ Sie hatte den Anflug von Neid in der Stimme nicht verbergen können. „Als Herzogin von Radstock bist du königliche Kammerjungfer und wirst zu jedem Staatsempfang eingeladen. Es heißt ja auch, daß die Königin eine Schwäche für den Herzog hat, was mich bei ihrer Vorliebe für gutaussehende Männer nicht wundert.“
Das alles hatte sehr verlockend geklungen.
Gracila liebte Pferde, und da sie selbst immer in einem großen Schloß gelebt hatte, empfand sie es als angenehm, sich auch in Zukunft nicht einschränken zu müssen.
Daß der Herzog sich nicht erst an sie, sondern direkt an ihren Vater gewandt hatte, enttäuschte Gracila. Doch dann schaltete sich ihr gesunder Menschenverstand ein, und sie sagte sich, daß dies insofern verständlich war, als der Herzog wahrscheinlich gar nicht auf die Idee kam, er könne abgelehnt werden. Schließlich war er die beste Partie ganz Englands.
Die Tatsache, daß der Herzog schon einmal verheiratet gewesen war, hatte Gracilas Stiefmutter nur kurz erwähnt. Die erste Frau war schließlich tot, und es erschien wenig sinnvoll, sich weiter über die Vergangenheit oder den Umstand auszulassen, daß der Herzog Gracilas Vater hätte sein können.
Da die Phantasie mit Gracila durchgegangen war und sie sich immer wieder vorgestellt hatte, welches Leben sie als Herzogin von Radstock führen würde, hatte sie völlig vergessen, in dem Herzog den zukünftigen Ehemann zu sehen.
Er war für sie eine ziemlich nebulöse Gestalt gewesen, vergleichbar mit den mythischen Helden des Altertums, die ihr allerdings manchmal wirklicher vorgekommen waren als die Menschen ihrer Umgebung.
Da Gracila so viel jünger war als ihre Brüder und Schwestern und weil sie sich aus diesem Grunde viel mit sich selbst hatte beschäftigen müssen, hatte sie ihre Abwechslung in den Büchern gefunden, die sie buchstäblich verschlang.
Wenn sie las, tauchte sie in eine Märchenwelt ein, in der alles schön war und in der jeder glücklich leben konnte. Unsympathische Frauen mit scharfen Stimmen, Frauen wie ihre Stiefmutter, existierten in dieser Welt nicht.
Es lag nicht daran, daß die neue Gräfin von Sheringham den Platz ihrer Mutter eingenommen hatte und die volle Aufmerksamkeit von Gracilas Vater in Anspruch nahm, sondern an der Tatsache, daß Daisy Sheringham eben kein netter Mensch war.
Gracila konnte sich dieses instinktive Gefühl der Abneigung selbst nicht erklären. Sie wußte lediglich, daß sie versucht hatte, es zu überwinden, doch ohne jeglichen Erfolg.
Aus diesem Grund hätte sie bereits in dem Augenblick mißtrauisch sein sollen, als ihre Stiefmutter ihr mitgeteilt hatte, daß sie die Frau des Herzogs werden solle.
Wie konnte ich nur so blind sein, dachte Gracila jetzt.
Und durch diese Blindheit war der Schock um so größer gewesen. Erst an diesem Nachmittag hatte sie erfahren müssen, wie die Dinge in Wirklichkeit standen, und noch jetzt empfand sie die bittere Wahrheit als physischen Schmerz.
Der Herzog war gekommen, um die letzten Vorbereitungen für die Hochzeit zu treffen.
Bis zum heutigen Tag hatte Gracila den Herzog nur selten gesehen. Und allein war sie mit ihm nur ein einziges Mal gewesen.Gracila hatte nicht einmal gewußt, daß der Herzog zu Gast war, und war daher höchst erstaunt gewesen, als sie in den Roten Salon gerufen worden war und ihn dort mit ihrem Vater zusammen vorgefunden hatte.
Sie hatte einen Knicks gemacht, aber nicht gewagt, den Blick zu heben.
„Gracila“, hatte ihr Vater gesagt, „deine Stiefmutter hat dir mitgeteilt, daß der Herzog um deine Hand angehalten hat, was uns eine große Ehre ist. Der Herzog wünscht mit dir zu sprechen, und ich ziehe mich daher zurück.“
Damit war ihr Vater gegangen, und Gracila hatte Herzklopfen bekommen wie noch nie in ihrem Leben. Jetzt hatte sie natürlich erst recht nicht mehr gewagt, den Blick zu heben.
„Ich bin überzeugt davon, daß wir zusammen glücklich sein werden, Gracila“, hatte der Herzog gesagt. „Ich hoffe, der Ring, den ich Ihnen mitgebracht habe, gefällt Ihnen.“
Er hatte ihre linke Hand genommen und ihr einen Ring mit einem großen Brillanten angesteckt.
„Vielen - Dank“, hatte Gracila gestammelt. „Der Ring ist - er ist sehr schön.“
„Er ist seit fast fünfhundert Jahren im Besitz der Familie“, hatte der Herzog gesagt. „Es gibt noch ein dazu passendes Collier und ein Diadem. Beides werden Sie tragen, wenn wir erst verheiratet sind.“
„Vielen Dank.“
Da der Herzog nichts weiter sagte und Gracila dies seltsam fand, sah sie ihn an.
Sein Blick war merkwürdig. Gracila hatte das Gefühl, als würde sie gemustert.
Dann lächelte der Herzog plötzlich. „Sie sind sehr schön, Gracila“, sagte er. „Ich bin sicher, daß man schnell feststellen wird, daß Sie die schönste aller Herzoginnen von Radstock sind, und es hat in dieser Familie eine ganze Reihe von sehr schönen Frauen gegeben.“
„Vielen Dank“, entgegnete Gracila.
Und dann fragte sie sich plötzlich, ob er sie jetzt wohl küssen würde.
Doch er führte lediglich ihre Hand zu seinen Lippen, und in diesem Augenblick kam auch schon ihr Vater wieder in den Salon.
Später hatte sie herauszufinden versucht, wie sie zu dem Herzog stand.
Er war zweifellos ein sehr gutaussehender Mann, doch seine Haut wirkte alt, seine Haare waren an den Schläfen schon grau, und seiner Figur fehlte die athletische Spannkraft eines jungen Menschen.
Gracila hatte sich gefragt, ob sie gern von ihm geküßt worden wäre, und hatte erstaunt feststellen müssen, daß sie diesbezüglich keine Meinung hatte.
Sie war noch nie in ihrem Leben geküßt worden, hatte sich einen Kuß jedoch immer als Ausdruck großer Liebe und als etwas Wundervolles vorgestellt. Aus Büchern glaubte sie zu wissen, daß die Liebe tiefe Gefühle erweckte und Menschen zu großen Taten veranlassen konnte.
Sie hatte sich immer wieder gefragt, ob sie tiefe Gefühle für den Herzog empfand, hatte sich aber keine Antwort geben können. Auch dann noch nicht, als der Herzog am Tag darauf wieder abgereist war.
Und heute, eine Woche vor dem Hochzeitstag, als er zurückgekommen war, hatte sie sich fest vorgenommen, es herauszufinden.
Während der stundenlangen Anproben für ihre Garderobe hatte sie an nichts anderes gedacht.
Gracila hatte sich ihren zukünftigen Mann immer als einen ritterlichen Menschen von der Abenteuerlust eines Odysseus und der Ausstrahlung und Schönheit eines Lord Byron vorgestellt. Weil ihre verschiedenen Gouvernanten Lord Byrons Gedichte strikt abgelehnt hatten, hatte Gracila sie heimlich in der Bibliothek gelesen.
Und nach den Anproben hatte sie plötzlich den unwiderstehlichen Drang verspürt, die Gedichte zur Hand